KIEW (dpa) — In Bunkern unter einem Chemie­werk in der Ostukrai­ne sitzen Hunder­te Zivilis­ten fest. Russland will ihnen offen­bar die Flucht ermög­li­chen. Die Entwick­lun­gen im Überblick.

Die Ukrai­ne hat von ihren auslän­di­schen Partnern erneut moder­ne Raketen­ab­wehr­waf­fen angefor­dert, um russi­sche Angrif­fe aus der Distanz zurück­schla­gen zu können.

Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj kündig­te noch für diese Woche wichti­ge Gesprä­che über die Beschaf­fung solcher Syste­me an. Er sagte nicht, mit wem er sprechen werde — es seien aber nicht nur europäi­sche Politi­ker. «Wir wieder­ho­len gegen­über unseren Partnern, dass die Ukrai­ne moder­ne Raketen­ab­wehr­waf­fen benötigt», sagte er.

In der Ostukrai­ne dauer­ten die erbit­ter­ten Kämpfe um die Großstadt Sjewjer­odo­nezk an. Russland kündig­te für Mittwoch die Schaf­fung eines humani­tä­ren Korri­dors an. Durch diesen sollen sich Zivilis­ten in Sicher­heit bringen können, die im örtli­chen Chemie­werk Azot Zuflucht gesucht haben. In den Kellern unter dem Werk werden dem Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in Moskau zufol­ge 540 bis 560 Zivilis­ten vermutet.

Schutz vor Raketenangriffen

Selen­skyj verwies darauf, dass die Ukrai­ne bei russi­schen Angrif­fen am Diens­tag zwar einige Raketen habe abschie­ßen können, aber nicht alle. Die Ziele des Beschus­ses lagen in den westukrai­ni­schen Gebie­ten Lwiw und Terno­pil. Nach Angaben örtli­cher Behör­den wurden sechs Menschen verletzt. Die Trümmer einer abgeschos­se­nen Rakete trafen demnach eine Ziege­lei in Solot­schiw im Gebiet Lwiw.

Die Ukrai­ne habe schon vor der russi­schen Invasi­on vom 24. Febru­ar um moder­ne Raketen­ab­wehr gebeten, sagte der Präsi­dent am Diens­tag­abend in Kiew. Ein Aufschub sei nicht zu recht­fer­ti­gen. Die Ukrai­ne habe derzeit «den größten Bedarf an solchen Waffen in Europa».

Die russi­sche Armee feuert seit Beginn des Krieges immer wieder aus siche­rer Distanz von Land, aus der Luft oder vom Meer aus Raketen und Marsch­flug­kör­per auf Ziele in der Ukrai­ne ab. Getrof­fen werden nicht nur militä­ri­sche Ziele, sondern auch viele teils zivile Gebäu­de in den großen Städten. Luftalarm zwingt die Bewoh­ne­rin­nen und Bewoh­ner immer wieder in Schutzräume.

Die Forde­rung der Ukrai­ne nach einem gewalt­sam durch­ge­setz­ten Flugver­bot an Himmel über dem Land haben ihre auslän­di­schen Unter­stüt­zer abgelehnt. Sie wollten nicht in eine direk­te militä­ri­sche Konfron­ta­ti­on mit Russland hinein­ge­zo­gen werden.

Vizemi­nis­te­rin: Ukrai­ne hat nur ein Zehntel an Waffen bekommen

Um Waffen­lie­fe­run­gen dürfte es auch gehen, wenn Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD), Frank­reichs Präsi­dent Emmanu­el Macron und der italie­ni­sche Regie­rungs­chef Mario Draghi Kiew besuchen. Die Reise wird erwar­tet, aller­dings ist offizi­ell noch kein Termin mitgeteilt.

Die Ukrai­ne hat nach Angaben ihrer Militär­füh­rung aus dem Ausland bislang nur ein Zehntel der notwen­di­gen Waffen­hil­fe bekom­men. «Von dem, was die Ukrai­ne gesagt hat, dass sie es braucht, haben wir bis heute etwa zehn Prozent», sagte Vizever­tei­di­gungs­mi­nis­te­rin Hanna Maljar im ukrai­ni­schen Fernse­hen. Russland sei an Rüstung und Zahl der Solda­ten unend­lich überle­gen. «Egal wie die Ukrai­ne sich anstrengt, egal wie profes­sio­nell unsere Armee ist, ohne Hilfe von Partnern werden wir diesen Krieg nicht gewin­nen können.»

Flucht­kor­ri­dor aus einem umkämpf­ten Chemiewerk

Der Flucht­weg für Zivilis­ten aus dem Chemie­werk Azot in Sjewjer­odo­nezk soll nach Moskau­er Angaben am Mittwoch von 7.00 bis 19.00 Uhr MESZ (Ortszeit: 8.00 bis 20.00 Uhr) offen sein. Er führe in nördli­cher Richtung in die Stadt Swatowe (Swatowo), sagte der General Michail Misin­zew vom russi­schen Verteidigungsministerium.

Swatowe liegt in der von prorus­si­schen Separa­tis­ten kontrol­lier­ten und von Russland als Staat anerkann­ten Volks­re­pu­blik Luhansk. Moskau lehnte den ukrai­ni­schen Vorschlag ab, die Menschen auf von Kiew kontrol­lier­tes Gebiet fliehen zu lassen. Die Ukrai­ne wolle nur ihre Bewaff­ne­ten aus Sjewjer­odo­nezk heraus­schleu­sen wie zuletzt beim Stahl­werk Azovs­tal in der Hafen­stadt Mariu­pol, sagte Misin­zew. Er forder­te die ukrai­ni­schen Solda­ten auf, sich zu ergeben.

Selen­skyj rief dagegen angesichts der verlust­rei­chen Abwehr­schlacht im Osten seine Truppen zum Durch­hal­ten auf. «Das ist unser Staat. Dort im Donbass durch­zu­hal­ten ist lebens­wich­tig», sagte er. «Es gibt Verlus­te, und sie sind schmerz­haft.» Doch an der Front im Osten entschei­de sich, welche Seite in den kommen­den Wochen dominie­ren werde. Je höher die Verlus­te des Feindes dort seien, desto weniger Kraft habe er, die Aggres­si­on fortzu­set­zen, sagte der Präsident.

Russland liefert weniger Gas

Der russi­sche Energie­rie­se Gazprom hat die maxima­len Gaslie­fer­men­gen durch die Ostsee­pipe­line Nord Stream 1 nach Deutsch­land um 40 Prozent verrin­gert. Grund seien Verzö­ge­run­gen bei Repara­tur­ar­bei­ten durch die Firma Siemens, teilte der Staats­kon­zern in Moskau mit. Ein Gasver­dich­ter­ag­gre­gat sei nicht recht­zei­tig aus der Repara­tur zurück­ge­kom­men. Deshalb könnten täglich nur noch bis zu 100 Millio­nen Kubik­me­ter Gas durch die Pipeline gepumpt werden — rund 60 Prozent des bisher geplan­ten Tages­vo­lu­mens von 167 Millionen.

Die Bundes­re­gie­rung sieht die Versor­gungs­si­cher­heit dennoch als gewähr­leis­tet an. Für Deutsch­land ist Nord Stream 1 die Haupt­ver­sor­gungs­lei­tung mit russi­schem Gas.

Um die Versor­gung mit Erdgas zu sichern, stützt die Bundes­re­gie­rung ein früher russi­sches Gasun­ter­un­ter­neh­men mit Milli­ar­den­be­trä­gen. Die jetzt von Deutsch­land kontrol­lier­te Gazprom Germa­nia soll nach Angaben aus Regie­rungs­krei­sen neun bis zehn Milli­ar­den Euro als Hilfen der staat­li­chen Förder­bank KfW erhalten.

Das wird heute wichtig

Vor dem mögli­chen Besuch in Kiew besucht der franzö­si­sche Präsi­dent Macron an diesem Mittwoch die Republik Moldau und trifft deren Staats­chefin Maia Sandu. Die kleine Ex-Sowjet­re­pu­blik grenzt an die Ukrai­ne und will ebenso wie diese der EU beitreten.

Mit der verän­der­ten Sicher­heits­la­ge in Europa durch den russi­schen Angriffs­krieg beschäf­ti­gen sich am Mittwoch die Vertei­di­gungs­mi­nis­ter der Nato-Staaten in Brüssel. Dabei geht es um die Verstär­kung der Ostflan­ke und um die geplan­te Bündnis­er­wei­te­rung um Schwe­den und Finnland. Ende Juli wird die Nato ein Gipfel­tref­fen in Madrid abhalten.