KIEW/MOSKAU (dpa) — Russland hat mit der Invasi­on in die Ukrai­ne begon­nen. Viele Menschen fliehen aus Angst vor einem noch größer angeleg­ten Angriff aus der Haupt­stadt. Die, die bleiben, suchen Schutz in U‑Bahn-Statio­nen.

Tausen­de Menschen haben in der ukrai­ni­schen Haupt­stadt Kiew am Donners­tag­abend in U‑Bahn-Statio­nen Schutz gesucht. Bürger­meis­ter Vitali Klitsch­ko hat die Bewoh­ner dazu aufge­ru­fen. In Kiew heulten am Morgen erneut die Sirenen, wie ein Korre­spon­dent der Deutschen Presse-Agentur berichtete.

Bilder aus der Großstadt Charkiw im Osten des Landes zeigten, wie auch dort Menschen mit Decken auf dem Boden einer Metro-Stati­on lagen. Viele hatten Wasser­fla­schen und Nahrungs­mit­tel dabei.

Die Straßen in Kiew seien am Abend fast menschen­leer gewesen, berich­te­te ein Korre­spon­dent der Deutschen-Presse-Agentur. Auf den Straßen waren demnach nur wenige Autos zu sehen. Seit 21.00 Uhr MEZ galt erstmals eine Sperr­stun­de. Dennoch war Kiew weiter wie gewohnt beleuch­tet, unter anderem die Sehens­wür­dig­kei­ten wie die unter Unesco-Schutz stehen­de Sophien­ka­the­dra­le und das Golde­ne Tor.

Zudem zeigten alle TV-Sender nur noch das Programm des öffent­lich-recht­li­chen Fernse­hens mit den entspre­chen­den Nachrichten.

Menschen fliehen aus Kiew

Aus Angst vor einem noch größer angeleg­ten russi­schen Angriff auf die Ukrai­ne fliehen viele Menschen aus der Haupt­stadt Kiew.

Die Slowa­kei, die eine direk­te Grenze mit der Ukrai­ne hat, stellt einen zuneh­men­den Andrang von Reisen­den aus der Ukrai­ne fest. Am Grenz­über­gang Vysne Nemecke sei mit bis zu achtstün­di­gen Warte­zei­ten zu rechnen, teilte die slowa­ki­sche Zollver­wal­tung am Abend mit. Konkre­te­re Angaben über die Zahl der Einrei­sen­den wollten Polizei und Innen­mi­nis­te­ri­um am Freitag veröf­fent­li­chen. Noch zum Mittag hatten sie die Lage an den Grenz­über­gän­gen zur Ukrai­ne als ruhig bezeichnet.

Vor Bankau­to­ma­ten Kiew bilde­ten sich lange Schlan­gen, wie ein Korre­spon­dent der Deutschen Presse-Agentur vor Ort berich­te­te. Fotos zeigten zudem lange Autoko­lon­nen. Andere versuch­ten, mit Zügen aus der Millio­nen­me­tro­po­le zu flüch­ten. Viele Menschen deckten sich mit Lebens­mit­teln und Trink­was­ser ein. Befürch­tet wird offen­bar, dass die Versor­gung im schlimms­ten Fall zusam­men­bre­chen könnte.

Aufgrund des verhäng­ten Ausnah­me­zu­stan­des dürfen jedoch nach ukrai­ni­schen Behör­den­an­ga­ben männli­che ukrai­ni­sche Staats­bür­ger im Alter von 18 bis 60 Jahren das Land nicht verlassen.

Tausen­de auf der Flucht

Nach vorläu­fi­gen Schät­zun­gen des UN-Flücht­lings­hilfs­werks (UNHCR) sind in der Ukrai­ne bereits 100.000 Menschen auf der Flucht. «Es hat eindeu­tig erheb­li­che Vertrei­bun­gen im Land gegeben und es gibt Bewegun­gen Richtung Grenzen und ins Ausland», sagte eine UNHCR-Spreche­rin am Donners­tag­abend in Genf.

Die Präsi­den­tin der Republik Moldau, Maia Sandu, twitter­te am Abend, dass am Donners­tag mehr als 4000 Menschen aus der Ukrai­ne über die Grenze gekom­men seien. Die Regie­rung habe bei Palan­ca und Ocnița Auffang­la­ger einge­rich­tet. «Unsere Grenzen sind offen für Menschen aus der Ukrai­ne, die einen siche­ren Aufent­halt brauchen oder durch­rei­sen möchten», schrieb sie auf dem Kurznachrichtendienst.

Nach Angaben der UN-Organi­sa­ti­on für Migra­ti­on (IOM) sind in der Ukrai­ne nach acht Jahren Konflikt bereits mehr als 1,4 Millio­nen Menschen Vertrie­be­ne. «Die Eskala­ti­on wird die humani­tä­ren Bedürf­nis­se noch verstär­ken und das Leid von Millio­nen von Famili­en verschlim­mern», teilte IOM-General­di­rek­tor António Vitori­no mit. Die Organi­sa­ti­on stehe bereit, um in enger Abspra­che mit Regie­run­gen und Partnern den Menschen zu helfen, die Hilfe brauchten.

Sorge vor humani­tä­rer Krise

Das Europa-Büro der Weltge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on WHO ist angesichts um das Wohlbe­fin­den der betrof­fe­nen Zivilis­ten in der Ukrai­ne besorgt. Jede weite­re Eskala­ti­on in dem Konflikt könne zu einer humani­tä­ren Katastro­phe in Europa mit vielen Todes­op­fern und weite­ren Schäden für die ohnehin schon anfäl­li­gen Gesund­heits­sys­te­me führen, teilte die WHO Europa am Donners­tag mit.

«Gesund­heits­per­so­nal, Kranken­häu­ser und andere Einrich­tun­gen dürfen nie zu einer Zielschei­be werden und ihnen muss gestat­tet sein, den Gesund­heits­be­dürf­nis­sen von Gemein­schaf­ten weiter zu dienen», erklär­te die Organi­sa­ti­on. Der Schutz von Zivilis­ten sei eine im humani­tä­ren Völker­recht veran­ker­te Verpflichtung.

Auch aus Sicht der Organi­sa­ti­on für Sicher­heit und Zusam­men­ar­beit in Europa (OSZE) hat die russi­sche Militär­ak­ti­on drama­ti­sche Folgen für die Bevöl­ke­rung vor Ort. «Es entsteht eine humani­tä­re Krise», sagte OSZE-General­se­kre­tä­rin Helga Schmi­din Wien. Ein Strom an Menschen werde fliehen, während es für die Verblei­ben­den keine funktio­nie­ren­de Grund­ver­sor­gung geben werde, sagte die deutsche Diplo­ma­tin bei einer Sitzung von Parla­men­ta­ri­ern aus den 57 OSZE-Staaten.

Das UN-Flücht­lings­hilfs­werk UNHCR hat sich ebenfalls tief besorgt gezeigt. «Die humani­tä­ren Folgen für die Zivil­be­woh­ner werden verhee­rend sein», teilte UNHCR-Chef, Filip­po Grandi mit, ohne den Einmarsch Russlands zu erwäh­nen. Die Organi­sa­ti­on rief Nachbar­län­der auf, die Grenzen für Menschen, die Sicher­heit und Schutz suchen, offen zu halten. Das UNHCR stehe in der Ukrai­ne und Nachbar­län­dern bereit zu helfen.

Mehrheit für für Aufnah­me von Flüchtlingen

Drei von vier Deutschen befür­wor­ten die Aufnah­me ukrai­ni­scher Flücht­lin­ge, die im Zuge der russi­schen Invasi­on aus ihrer Heimat vertrie­ben werden könnten. Nur wenige, nämlich 15 Prozent, lehnen die Aufnah­me ab, wie eine forsa-Umfra­ge im Auftrag von RTL und ntv vom Donners­tag ergab. Demnach meinen allein die Anhän­ger der AfD (61 Prozent) überwie­gend, dass Deutsch­land keine ukrai­ni­schen Flücht­lin­ge aufneh­men sollte.

Deutsch­land: Noch keine große Fluchtbewegung

Die Bundes­po­li­zei stellt sich an der deutsch-polni­schen Grenze auf geflüch­te­te Menschen aus der Ukrai­ne ein. Bislang seien noch keine aus der Ukrai­ne Vertrie­be­nen an der Grenze festge­stellt worden, teilte eine Spreche­rin am Donners­tag auf Anfra­ge mit. Auch die Bundes­re­gie­rung sieht derzeit noch keine großen Flucht­be­we­gun­gen, bietet aber bereits Unter­stüt­zung und unbüro­kra­ti­sche Hilfe an. «Wir gehen erst von Flucht und Vertrei­bung inner­halb der Ukrai­ne aus», sagte Innen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser (SPD) am Donners­tag in Berlin. Aktuell könne es noch keine konkre­ten Zahlen zu mögli­chen Flucht­be­we­gun­gen in Nachbar­län­der oder auch nach Deutsch­land geben.

Ein Vertre­ter der polni­schen Regie­rung habe ihr am Vormit­tag mitge­teilt, dass noch keine große Zahl von Flücht­lin­gen angekom­men sei. Bislang habe das Nachbar­land auch keine zusätz­li­che Unter­stüt­zungs­leis­tun­gen aus Deutsch­land abgeru­fen. Sie habe medizi­ni­sche Hilfe und Leistun­gen des THW angebo­ten, so die Ministerin.

Ukrai­ni­sche Staats­bür­ger mit biome­tri­schen Ausweis können visafrei nach Deutsch­land einrei­sen und haben dann ein Aufent­halts­recht für 90 Tage Über den künfti­gen Status mögli­cher ukrai­ni­scher Kriegs­flücht­lin­ge in der Europäi­schen Union werde man sich in der EU abstim­men, sagte Faeser.

«In der Praxis schei­tert die Einrei­se aber häufig an der Voraus­set­zung eines biome­tri­schen Reise­pas­ses», sagte die Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­te Clara Bünger (Linke). Diese forma­le Voraus­set­zung, die nicht einmal die Hälfte der Ukrai­ner erfüll­ten, müsse umgehend ausge­setzt werden.

DRK sichert Hilfe zu

Das Deutsche Rote Kreuz (DRK) berei­tet sich auf umfas­sen­de Hilfs­maß­nah­men für die Zivil­be­völ­ke­rung in der Ukrai­ne vor. Man werde alles Machba­re tun, um gemein­sam mit dem Inter­na­tio­na­len Roten Kreuz und dem Roten Halbmond Leben zu schüt­zen und Menschen in Not zu versor­gen, sagte DRK-Präsi­den­tin Gerda Hassel­feldt der Düssel­dor­fer «Rheini­schen Post».

Das DRK unter­stützt bereits seit 2017 Menschen, die in der Ostukrai­ne nahe der Kontakt­li­nie leben, mit monat­li­chen Bargeld­hil­fen. Seit vergan­ge­ner Woche ist ein DRK-Nothil­fe­ex­per­te in Kiew, um einen substan­zi­el­len Beitrag des DRK zum Notfall­plan des Ukrai­ni­schen Roten Kreuzes auszu­ar­bei­ten, wie das DRK im Inter­net mitteilt.

Norwe­gen erhöht Nothil­fe für Ukraine

Norwe­gen erhöht seine Nothil­fe für die Ukrai­ne um 200 Millio­nen norwe­gi­sche Kronen (rund 20 Millio­nen Euro). Das gab Regie­rungs­chef Jonas Gahr Støre am Donners­tag auf einer Presse­kon­fe­renz in Oslo bekannt.

«Heute sind wir zu Krieg in Europa aufge­wacht», sagte Støre zum russi­schen Einmarsch in die Ukrai­ne. Man habe lange befürch­tet, dass Russland einen massi­ven militä­ri­schen Angriff auf die Ukrai­ne starten werde — genau das gesche­he nun. «Das ist auch ein Angriff auf das freie und demokra­ti­sche Europa.» Norwe­gen als Nicht-EU-Mitglied werde sich den geplan­ten EU-Sanktio­nen gegen Russland anschließen.