Deutsch­land impft — doch aus Sicht vieler Exper­ten könnte es schnel­ler voran­ge­hen. Im Zentrum der Kritik: Gesund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn. Die Linke will, dass er sich im Bundes­tag erklärt.

Rund eine Woche nach Beginn der Corona-Impfun­gen in Deutsch­land wächst die Kritik an der Strate­gie der Bundesregierung.

Ein Mitglied der Natio­na­len Akade­mie der Wissen­schaf­ten Leopol­di­na warf der großen Koali­ti­on schwe­re Versäum­nis­se bei der Beschaf­fung des Impfstoffs vor.

Auch SPD-Gesund­heits­po­li­ti­ker Karl Lauter­bach sieht deutli­che Defizi­te. SPD-Frakti­ons­vi­ze Dirk Wiese griff den Gesund­heits­mi­nis­ter scharf an: «Ich bin derzeit schon entsetzt über Jens Spahn», sagte er t‑online. Der CDU-Politi­ker müsse «endlich seinen Aufga­ben nachkom­men und die offen­sicht­li­chen Proble­me unver­züg­lich in den Griff bekommen».

Das Robert Koch-Insti­tut teilte am Samstag mit, inzwi­schen seien rund 188.500 Impfun­gen gegen das Corona­vi­rus gemel­det. Darun­ter sind in etwa zu gleichen Antei­len Bewoh­ner von Pflege­hei­men und medizi­ni­sches Perso­nal mit sehr hohem Anste­ckungs­ri­si­ko sowie Perso­nal in der Alten­pfle­ge. Die Meldun­gen aus den Bundes­län­dern werden teilwei­se aber mit Verzug an das Insti­tut übermit­telt, so dass die realen Zahlen jeweils deutlich höher sein könnten.

Die Gesund­heits­äm­ter melde­ten zuletzt 12.690 Corona-Neuin­fek­tio­nen und 336 neue Todes­fäl­le binnen 24 Stunden. Eine Inter­pre­ta­ti­on der Daten ist jedoch momen­tan schwie­rig, weil während der Weihnachts­fei­er­ta­ge und um den Jahres­wech­sel wohl weniger Menschen getes­tet wurden und Ämter auch diesbe­züg­lich Daten verzö­gert übermit­tel­ten. Die Zahl der binnen sieben Tagen gemel­de­ten Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­ner lag am Samstag­mor­gen bei 141,2.

Lauter­bach erwar­tet zunächst keine Besse­rung der Corona-Lage. «Wir werden jetzt die schlimms­ten drei Monate der gesam­ten Pande­mie mit hohen Infek­ti­ons- und Todes­zah­len vor uns haben», bekräf­tig­te er in der «Rheini­schen Post». Ab April sei dann durch eine Kombi­na­ti­on aus besse­rem Wetter und mehr verfüg­ba­rem Impfstoff ein Licht am Ende des Tunnels erkennbar.

Deutsch­land und Europa könnten aus seiner Sicht mit den Impfun­gen aller­dings schon weiter sein. Es sei zu wenig Biontech-Impfstoff geordert und auch beim ameri­ka­ni­schen Unter­neh­men Moder­na zu wenig bestellt worden. «Schon sehr früh war klar, dass der Moder­na-Impfstoff sehr stark wirkt und in Hausarzt­pra­xen verwen­det werden könnte», sagte Lauter­bach. Wegen der gerin­gen bestell­ten Menge werde der Moder­na-Impfstoff wohl auch bei einer zeitna­hen Zulas­sung keine Rolle spielen. Die Bundes­re­gie­rung rechnet damit, dass dieser Impfstoff am 6. Januar zugelas­sen wird. Die EU hatte bei Biontech 300 Millio­nen Impfdo­sen bestellt und bei Moder­na zunächst 160 Millionen.

Die Leopol­di­na-Neuro­lo­gin Frauke Zipp beton­te: «Ich halte die derzei­ti­ge Situa­ti­on für grobes Versa­gen der Verant­wort­li­chen.» Es habe im Sommer Angebo­te für mehr Impfdo­sen gegeben, im Spätsom­mer von Biontech. «Wir hätten sie jetzt zur Verfü­gung», sagte sie der «Welt». Die Leopol­di­na gehört zu den wichtigs­ten Beratern der Regierung.

EU-Gesund­heits­kom­mis­sa­rin Stella Kyria­ki­des vertei­dig­te die Impfstoff-Strate­gie der EU. «Das Nadel­öhr ist derzeit nicht die Zahl der Bestel­lun­gen, sondern der weltwei­te Engpass an Produk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten», sagte sie der Deutschen Presse-Agentur. «Das gilt auch für Biontech.» Zugleich versprach Kyria­ki­des schritt­wei­se Verbes­se­run­gen bei der Versorgung.

Kyria­ki­des versi­cher­te, man habe die Verhand­lun­gen mit Biontech früh aufge­nom­men und der Firma mit 100 Millio­nen Euro beim Aufbau der jetzi­gen Produk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten gehol­fen. Gleich­zei­tig habe man mit anderen Herstel­lern Verträ­ge geschlos­sen. «Wir waren uns in der EU einig, dass wir nicht alles auf eine Karte setzen dürfen», beton­te die Kommis­sa­rin. Sonst hätten die EU-Staaten womög­lich ohne wirksa­men Impfstoff dagestanden.

Biontech hatte am Freitag erklärt, mehr Corona-Impfstoff als bisher geplant an die EU liefern zu wollen. Das Unter­neh­men befin­de sich «in fortge­schrit­te­nen Diskus­sio­nen, ob und wie wir weite­re Impfstoff­do­sen aus Europa für Europa in diesem Jahr zur Verfü­gung stellen können», sagte Unter­neh­mens­chef Ugur Sahin der dpa.

FDP-Frakti­ons­vi­ze Micha­el Theurer griff Gesund­heits­mi­nis­ter Spahn wegen des knappen Impfstoffs an. Aller­spä­tes­tens im Herbst hätte er auf die rasan­ten Entwick­lun­gen bei Biontech reagie­ren müssen, sagte er dem «Handels­blatt». «Er hat aber die Fehlent­schei­dung der Bundes­re­gie­rung nicht korri­giert und versagt.»

Die Links­frak­ti­on fordert eine Regie­rungs­er­klä­rung des Gesund­heits­mi­nis­ters im Bundes­tag. «Es muss aufge­ar­bei­tet werden, warum der Impfstoff zu knapp ist und wo geschlampt wurde», sagte der parla­men­ta­ri­sche Frakti­ons­ge­schäfts­füh­rer Jan Korte der Deutschen Presse-Agentur. Spahn müsse auch erklä­ren, wie die Kapazi­tä­ten schnells­tens erhöht werden könnten.

Am Diens­tag will Kanzle­rin Angela Merkel (CDU) mit den Minis­ter­prä­si­den­ten der Länder die Situa­ti­on bespre­chen. Dabei soll auch entschie­den werden, ob der aktuel­le Lockdown nach dem 10. Januar fortge­setzt wird. Vieles spricht aus Sicht von Wirtschafts­exper­ten und Politi­kern dafür. Nieder­sach­sens Gesund­heits­mi­nis­te­rin Carola Reimann (SPD) sagte im Deutsch­land­funk: «Wir haben immer mehr Patien­ten, die wir behan­deln müssen. Deshalb sehe ich für eine Verän­de­rung keinen Anlass.»

Auch der Deutsche Städte­tag erwar­tet eine Verlän­ge­rung des Lockdowns. Haupt­ge­schäfts­füh­rer Helmut Dedy sprach sich im Deutsch­land­funk auch dafür aus. die Schul­fe­ri­en zu verlän­gern. Ein Präsenz­un­ter­richt werde erst wieder möglich sein, wenn das Infek­ti­ons­ge­sche­hen einge­dämmt sei. Man müsse auch darüber nachden­ken, ob Lehrplä­ne verän­dert werden müssten. Wenn man Kontak­te reduzie­ren wolle, spreche vieles auch für einen weite­ren Lockdown bei den Kitas.