BERLIN (dpa) — 48 Millio­nen Menschen will Finanz­mi­nis­ter Lindner entlas­ten, dennoch gibt es viel Kritik an seinen Steuer­ent­las­tungs­plä­nen. Warnun­gen vor mehr Armut machen sich breit. Und es ist eine Debat­te über Gerech­tig­keit entbrannt.

Die Kritik an den Steuer­ent­las­tungs­plä­nen von Bundes­fi­nanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lindner reißt nicht ab. Ableh­nung kommt unter anderem von der Gewerk­schaft Verdi. Deren Vorsit­zen­der Frank Werne­ke beklag­te, profi­tie­ren würden in aller­ers­ter Linie jene, die hohe Einkom­men bezie­hen und vom Spitzen­steu­er­satz betrof­fen sind. «Dieje­ni­gen, die auch jeden Tag hart arbei­ten, aber eher niedri­ge Einkom­men bezie­hen und derzeit am meisten unter der Preis­stei­ge­rung leiden, würden kaum profi­tie­ren — das ist krass ungerecht», sagte Werne­ke der «Rheini­schen Post».

Werne­ke forder­te ein umfas­sen­des Steuer­kon­zept, in dem Verän­de­run­gen am Einkom­men­steu­er­ta­rif mit einer Erhöhung des Spitzen­steu­er­sat­zes und einer Überge­winn­steu­er ausge­gli­chen würden, die Firmen zahlen sollten, die in der Krise überpro­por­tio­nal Gewin­ne erziel­ten. «Beschäf­tig­ten, die keine hohen Gehäl­ter bezie­hen und angesichts der Preis­ent­wick­lung in echter Not sind, nützt ein Herum­dok­tern am Steuer­ta­rif nichts. Es braucht statt­des­sen ein weite­res Entlas­tungs­pa­ket mit direk­ten Zahlun­gen — gezielt für Menschen mit gerin­gen bis mittle­ren Haushalts­ein­kom­men», sagte der Gewerkschaftschef.

Der Düssel­dor­fer Ökonom Jens Südekum befand, es sei «derzeit einfach nicht die Zeit», alle Einkom­mens­be­rei­che zu entlas­ten. «Angesichts der steigen­den Infla­ti­on bräuch­ten wir eine Umver­tei­lung von oben nach unten, nicht umgekehrt», sagte er dem «Spiegel». Die Wirtschafts­wei­se Veroni­ka Grimm hatte ebenfalls kriti­siert, eine Reform, bei der nominal die Besser­ver­die­nen­den mehr gewin­nen, komme zum falschen Zeitpunkt.

48 Millio­nen Menschen sollen von Plänen profitieren

FDP-Chef Lindner hatte seine Pläne am Mittwoch vorge­stellt. 48 Millio­nen Bürger sollen ab 2023 profi­tie­ren, es geht um mehr als zehn Milli­ar­den Euro Entlas­tung. Prozen­tu­al werden Gering­ver­die­ner demnach deutlich stärker entlas­tet als Topver­die­ner — in absolu­ten Zahlen sieht das aber anders aus. Politi­ker der Koali­ti­ons­part­ner Grüne und SPD sehen eine sozia­le Schief­la­ge. Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) hatte aber Lindners Pläne als «guten Aufschlag» und Teil eines Gesamt­pa­kets mit weite­ren Entlas­tun­gen bezeichnet.

FDP-Frakti­ons­chef Chris­ti­an Dürr vertei­dig­te die Pläne seines Partei­chefs und rief zu deren Unter­stüt­zung auf. Es sei ein «wichti­ger Schritt für mehr Steuer­ge­rech­tig­keit», sagte Dürr der Deutschen Presse-Agentur. «Die vorge­schla­ge­nen Maßnah­men sind eine echte Entlas­tung für die breite Mitte unserer Gesell­schaft, die unseren Staat und unsere sozia­len Siche­rungs­sys­te­me Tag für Tag am Laufen hält», sagte Dürr. «Meine Bitte an alle Kriti­ker lautet: das Vorha­ben von Chris­ti­an Lindner zu unterstützen.»

CDU-General­se­kre­tär Mario Czaja unter­stütz­te Lindners Ansatz im Grund­satz: «Eine steuer­li­che Entlas­tung der breiten Mitte durch die Abmil­de­rung der kalten Progres­si­on finden auch wir grund­sätz­lich richtig. Dadurch werden vor allem kleine und mittle­re Einkom­men entlas­tet», sagte Czaja der «Bild»-Zeitung (Freitag). Czaja rief Kanzler Scholz auf, dazu eine Entschei­dung am Kabinetts­tisch herbei­zu­füh­ren. Der Parla­men­ta­ri­sche Geschäfts­füh­rer der CSU-Landes­grup­pe im Bundes­tag, Stefan Müller, kriti­sier­te: «Selbst minima­le Entlas­tun­gen führen in der Ampel zu Aufschrei. Die Ampel ist eine linke Regie­rung, in der die FDP unter­geht», sagte Müller der «Bild».

Holet­schek: Steuer­plä­ne belas­ten Gesundheitssystem

Die Steuer­plä­ne ignorie­ren nach Ansicht von Bayerns Gesund­heits­mi­nis­ter Klaus Holet­schek (CSU) die Unter­fi­nan­zie­rung des Gesund­heits­sys­tems. Die Beiträ­ge, die der Bund seit Jahren für die gesetz­li­che Kranken­ver­si­che­rung für Gering­ver­die­ner und Arbeits­lo­se leiste, würden nur zu einem Bruch­teil die anfal­len­den Kosten für Kassen­leis­tun­gen decken, sagte Holet­schek am Freitag der Deutschen Presse-Agentur in München. Es gehe hier um mindes­tens neun Milli­ar­den Euro jährlich, die die Kranken­ver­si­cher­ten und Arbeit­ge­ber aufbrin­gen müssten, weil der Bund sich seiner Verant­wor­tung für Bezie­her von Grund­si­che­rungs­leis­tun­gen entziehe.

Wenn Lindner erklä­re, er wolle etwas für die «breite Mitte» tun, müsse er sich dem wichti­gen Thema der gesetz­li­chen Kranken­ver­si­che­rung für Bezie­her von Arbeits­lo­sen­geld II anneh­men. «Hier wäre ein Ansatz­punkt für Entlas­tun­gen durch den Bund, den ich sehr begrü­ßen würde.»

Mehrheit in Umfra­ge: Regie­rung tut zu wenig für Entlastung

Angesichts stark steigen­der Preise wirft eine Mehrheit der Bürge­rin­nen und Bürger der Bundes­re­gie­rung in einer Umfra­ge vor, zu wenig für eine Entlas­tung zu tun. Dies beklag­ten im ZDF-«Politbarometer» vom Freitag 58 Prozent der 1389 Befrag­ten, wie die Forschungs­grup­pe Wahlen ermit­tel­te. 30 Prozent finden die getrof­fe­nen Maßnah­men demnach gerade richtig. 5 Prozent sind der Meinung, es werde dafür sogar zu viel getan.

Bei den Anhän­gern aller Bundes­tags­par­tei­en überwie­gen die Kriti­ker der Regie­rung, am stärks­ten aber bei AfD (80 Prozent) und Linken (71 Prozent), am wenigs­ten bei Union, Grünen und SPD (je 52 oder 53 Prozent).

Inzwi­schen sagen nur noch 55 Prozent, dass ihre eigene finan­zi­el­le Situa­ti­on gut ist — Anfang des Jahres waren es noch 65 Prozent. 37 Prozent sagen teils/teils, 8 Prozent klassi­fi­zie­ren sie als schlecht. Noch nie haben so viele — nämlich 40 Prozent — erwar­tet, dass ihre eigene wirtschaft­li­che Lage in einem Jahr schlech­ter sein wird als heute. 49 Prozent gehen von einer unver­än­der­ten persön­li­chen Situa­ti­on aus. 10 Prozent erwar­ten eine Besserung.

Dröge: Lieber Energie­pau­scha­le als Steuerreform

Zur Entlas­tung von Menschen mit wenig Einkom­men plädie­ren die Grünen für die erneu­te Zahlung einer Energie­pau­scha­le an Stelle der von Finanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lindner (FDP) vorge­leg­ten Steuer­re­form. «Das wäre aus unserer Sicht ein deutlich besse­res Modell, das wir noch einmal wieder­ho­len könnten», sagte Frakti­ons­chefin Katha­ri­na Dröge am Freitag im ZDF-«Morgenmagazin».

Mit Blick auf Lindners Entwurf erklär­te sie: «Aller­dings stimmt aus unserer Sicht hier der Fokus und die Richtung noch nicht: Wir dürfen nicht die Topver­die­ner am meisten entlas­ten, sondern wir müssen dieje­ni­gen, die es am dringends­ten brauchen, am meisten entlas­ten.» Die bereits einmal beschlos­se­ne Energie­pau­scha­le sei «ein deutlich gerech­te­rer Weg», weil sie umgekehrt wirke. Die 300 Euro würden besteu­ert, somit bekämen die Reichs­ten am wenigs­ten und Gering­ver­die­nen­de am meisten, weil sie die wenigs­ten Steuern zahlten.

Butter­weg­ge: Armut wird sich weiter ausbreiten

Vor allem die explo­die­ren­den Energie- und stark steigen­den Lebens­mit­tel­prei­se machen vielen Menschen zu schaf­fen. Kanzler Scholz erwar­tet aber deshalb keine sozia­len Unruhen, wie er am Donners­tag deutlich machte. Der Armuts­for­scher Chris­toph Butter­weg­ge warnte gleich­wohl in der «Rheini­schen Post»: «Die wahrschein­lich auch künftig steigen­den Energie- und Nahrungs­mit­tel­prei­se dürften bis in die Mitte der Gesell­schaft hinein zu sozia­len Verwer­fun­gen führen. Mögli­cher­wei­se muss auch manche Mittel­schicht­fa­mi­lie die Hälfte ihres Einkom­mens für die Warmmie­te ausge­ben. Daher wird sich die Armut weiter ausbreiten.»

Die Grünen-Partei­che­fin Ricar­da Lang sagte der Zeitung, zur Verhin­de­rung einer Armuts­wel­le seien kurzfris­ti­ge Maßnah­men nötig, um gezielt im Herbst und Winter jene zu entlas­ten, die am stärks­ten von den steigen­den Preisen betrof­fen sind. Lang forder­te aber zugleich eine «grund­sätz­li­che Debat­te über Gerech­tig­keit, die wir auch in der Regie­rung führen müssen.»