Wie soll es nach diesem Debakel weiter­ge­hen? Von Joachim Löw werden nach der histo­ri­schen Länder­spiel­p­lei­te in Spani­en schnel­le Antwor­ten erwar­tet. Der Bundes­trai­ner setzt aber trotz lautstar­ker Kritik auf seinen bewähr­ten Krisen­mo­dus. Fest steht: Er darf weitermachen.

Gleich nach der Landung in München bekam der Bundes­trai­ner bei einem kurzen Krisen­ge­spräch mit DFB-Präsi­dent Fritz Keller und Verbands­di­rek­tor Oliver Bierhoff noch am Flugha­fen das entschei­den­de Signal: Es geht weiter mit ihm Richtung EM. Der nicht erst nach dem Desas­ter in Sevil­la heftig umstrit­te­ne Neuauf­bau wird mit dem Rekord­coach fortgesetzt.

Nach dem histo­ri­schen 0:6‑Debakel hatte sich der gedemü­tig­te Löw mit seinen überfor­der­ten Natio­nal­spie­lern vor dem Morgen­grau­en auf die Heimrei­se aus Sevil­la gemacht. Der Sonder­flie­ger war noch nicht gestar­tet, da prassel­ten auf Löw über alle Kanäle schon bohren­de Fragen und klare Forde­run­gen ein — die nach einem Rücktritt inklu­si­ve. Den wird es wie nach dem WM-Desas­ter 2018 nicht geben.

Den selbst noch nach Antwor­ten suchen­den DFB-Chefcoach erwar­ten nun aber beschwer­li­che Tage. Gemein­sam mit Keller ging es für Löw von München mit einem DFB-Shuttle weiter Richtung gemein­sa­me Heimat Freiburg. Der Verbands­boss dürfte auf den gut 400 Kilome­tern reich­lich Gesprächs­be­darf gehabt haben. Die Klärung vieler Fragen erwar­ten nach der spani­schen Lehrstun­de auch die Fans.

Wie weiter Richtung Europa­meis­ter­schaft? Wirklich weiter ohne Thomas Müller, Jérôme Boateng und Mats Hummels? Die von Bierhoff schon vor der höchs­ten Nieder­la­ge seit 89 Jahren gesich­te­te dunkle Wolke über der Natio­nal­mann­schaft hat sich durch den desas­trö­sen Auftritt in Andalu­si­en in ein Orkan­tief verwan­delt. Löw sprach aber nie von Abschied oder Trennung. Die gravie­ren­den Proble­me nimmt der 60-Jähri­ge mit in eine viermo­na­ti­ge Winterpause.

«Wir müssen das die nächs­ten Tage im Trainer­stab aufar­bei­ten. Was sind jetzt die richti­gen Schlüs­se, die wir ziehen müssen? Was ist der richti­ge Weg? Wir haben gedacht, dass wir einen Schritt weiter sind nach den letzten Spielen und diesem Jahr, das insge­samt schwie­rig war», sagte Löw. Sein Krisen­ma­nage­ment wird schon zur Routi­ne. Wie nach der WM 2018 wird sich Löw als Fußball-Emerit zurück­zie­hen. Fußball-Deutsch­land braucht mit ihm als Bundes­trai­ner viel Geduld.

Dass Löw das Dauer­the­ma um eine Rückkehr des von ihm aussor­tier­ten Weltmeis­ter-Trios Müller (31), Hummels (31), Boateng (32) in seinen ersten Analy­se­ka­ta­log aufnimmt, ist zudem unwahr­schein­lich. Seine Haltung hatte sich auch nach den sechs spani­schen Nacken­schlä­gen nicht verän­dert. «Zum richti­gen Zeitpunkt» wolle er über die heiß disku­tier­te Frage befin­den. Dass dieser für ihn trotz der zahlrei­chen Forde­run­gen von Ex-Natio­nal­spie­lern wie Lothar Matthä­us über Jürgen Klins­mann bis hin zu Basti­an Schwein­stei­ger und Didi Hamann immer noch nicht gekom­men ist, machte der 60-Jähri­ge schon deutlich.

«Das Vertrau­en ist jetzt im Moment nicht völlig erschüt­tert. Diese junge Mannschaft hat auch die Fähig­keit, sich so zu entwi­ckeln, dass wir eine leistungs­star­ke, konkur­renz­fä­hi­ge Mannschaft haben. Davon bin ich absolut überzeugt», laute­te Löws nach dem fußbal­le­ri­schen Offen­ba­rungs­eid erstaun­li­ches Treue­be­kennt­nis zur Umbruch-Elf.

Löw weiß, dass er eine Rückkehr der geschass­ten Alpha­tie­re teamin­tern nicht moderie­ren kann. Wen sollte er aus seiner Start­elf strei­chen? Niklas Süle? Leon Goretz­ka? Leroy Sané? Der Genera­tio­nen­kon­flikt verha­gel­te schon die Stimmung vor zwei Jahren in Russland. Und für einen Bankplatz kämen die Oldies nicht zurück. Auch Rekord-Torwart Manuel Neuer verbat sich die Debat­te. «Es ist der falsche Zeitpunkt, nach so einer Nieder­la­ge über Spieler zu sprechen, die nicht dabei sind.» Sinnhaft zu kommu­ni­zie­ren und durch­zu­füh­ren wäre eine Rückkehr nur von einem anderen Bundestrainer.

Die längst noch nicht verheil­ten Wunden des WM-Traumas von 2018 sind jeden­falls wieder aufge­ris­sen. Statt den Gruppen­sieg in der Nations League als Symbol der Rückkehr zu höchs­ter Wettbe­werbs­fä­hig­keit zu feiern, steht Löw nach dem Unter­gang in Andalu­si­en vor den Trümmern seiner kritisch beglei­te­ten Aufbau­ar­beit. Schonungs­los zerstört vom alten Rivalen Spani­en. Und das nur sieben Monate vor dem EM-Start. Und der erste Gegner am 15. Juni 2021 ist Weltmeis­ter Frankreich.

Die Suche nach Hoffnungs­trä­gern ist schwie­rig. Joshua Kimmich ist der allseits fallen­de Name. Der ehrgei­zi­ge Bayern-Antrei­ber soll dem Team nach seiner Verlet­zung Leben einhau­chen. Doch reicht ein Kimmich für diese Aufga­be? Laut ist der Ruf nach Konso­li­die­rung durch Erfahrung.

Den Auftakt machte Schwein­stei­ger: «Ich weiß, dass solche Spieler wie Jérôme Boateng oder Thomas Müller das Triple gewon­nen haben mit dem FC Bayern München. Sie sind die beste Mannschaft Europas. Die spielen in der ersten Elf, die haben Quali­tät. Das sind deutsche Spieler. Warum nicht für die Natio­nal­mann­schaft?», stell­te der WM-Held von Rio noch im ARD-Studio eine rheto­ri­sche Frage.

Doch hätte das Ü30-Trio in Sevil­la gehol­fen? Auch der in seinem Rekord­spiel allein gelas­se­ne Neuer und der in entschei­den­den Momen­ten unsicht­ba­re Toni Kroos waren als noch aktive Ex-Weltmeis­ter nicht in der Lage, das Desas­ter abzuwen­den. Müller, Hummels und Boateng umgibt eine Märty­rer-Roman­tik. Bei der WM 2018 gehör­ten aber auch sie zu den Enttäu­schun­gen. Vor zwei Jahren zeich­ne­ten sie beim 0:3 in Holland für die bis Diens­tag­abend höchs­te Löw-Nieder­la­ge mitverantwortlich.

Die anste­hen­de lange Auszeit kann für Löw ein Vorteil sein. Schnell werden Bundes­li­ga, Champi­ons League und die Corona-Wirren wieder in den Mittel­punkt rücken. Löw kann sich als Fußball-Fakto­tum zurück­zie­hen. Nicht einmal bei der digital abgehal­te­nen Auslo­sung der WM-Quali­fi­ka­ti­ons­grup­pen am 7. Dezem­ber in Zürich muss er erscheinen.

In Sevil­la stand ihm Bierhoff schnell verbal zur Seite. «Das Vertrau­en ist da, daran ändert auch dieses Spiel nichts», versi­cher­te der DFB-Direk­tor. Als Löws Vorge­setz­ter hatte er aber schon vor dem Spiel mit Inter­view-Aussa­gen eine Distanz zum Wegge­fähr­ten aufgebaut.

Wie dauer­haft das Bekennt­nis von Keller und Bierhoff ist, wird sich zeigen müssen, wenn die Kriti­ker-Allianz aus Boule­vard und Alt-Inter­na­tio­na­len nicht verstummt. Ralf Rangnick könnte schnell als verfüg­ba­rer wie kompe­ten­ter Kandi­dat in der Not gehan­delt werden. «Ob ich mir Sorgen um meinen Job machen muss, müssen sie andere fragen», sagte Löw nach seinem 189. Länder­spiel als Chefcoach etwas trotzig.

Schon zweimal sorgten hefti­ge Nieder­la­gen kurz vor Turnie­ren für Panik­stim­mung. 2004 folgte dem 1:5 in Rumäni­en das Vorrun­den-Aus bei der EM und der sofor­ti­ge Abschied von Teamchef Rudi Völler. 2006 legte Klins­mann mit seinem Assis­ten­ten Löw den Hebel nach einem 1:4 in Itali­en noch um. Das WM-Sommer­mär­chen überstrahl­te alles.

Die histo­ri­schen Fakten der höchs­ten Nieder­la­gen seiner Amtszeit werden Löw aber dauer­haft beglei­ten. Nie kassier­te eine DFB-Elf in 112 Jahren eine höhere Pflicht­spiel­nie­der­la­ge. Nur 1909 beim 0:9 gegen England und beim 3:8 gegen Ungarn im WM-Gruppen­spiel 1954 gab es mehr Gegen­to­re. Sepp Herber­ger gelang damals zwei Wochen später der Titel­coup gegen den gleichen Gegner. Ob Löw dies in sieben Monaten gegen Spani­en gelin­gen kann, scheint mehr als fraglich.