HERZOGENAURACH (dpa) — Es ist alles gesagt — jetzt wird gespielt. Das größte Achtel­fi­na­le dieser EM eröff­net Deutschen und Englän­dern riesi­ge Turnier­chan­cen. Müller kehrt beim Klassi­ker zurück. Goretz­ka will sofort loslegen.

Joachim Löw erzähl­te beschwingt von einem gemüt­li­chen Privat-Konzert mit Rock-Legen­de Peter Maffay im Kreise der Natio­nal­mann­schaft. Den Count­down für den England-Kracher eröff­ne­te der Bundes­trai­ner aber mit einem schril­len Pfiff aus seiner schwar­zen Trillerpfeife.

Um Punkt 11.00 Uhr blies Löw mit dem akusti­schen Signal den Weg. Es könnte, aber es soll partout kein histo­ri­scher Pfiff gewesen sein. Weder der «ewige Jogi» noch seine EM-Kicker mochten am Montag in Herzo­gen­au­rach daran denken, dass der Bundes­trai­ner in diesem Moment womög­lich sein aller­letz­tes Training als Bundes­trai­ner eröff­net hatte. Abdan­ken in Wembley gegen England? Nein, das will Löw nicht.

Müller kehrt in die Start­elf zurück

Die finale Übungs­ein­heit vor dem Flug von Nürnberg nach London und das 198. Länder­spiel als DFB-Chefcoach am Diens­tag (18.00 Uhr/ARD und Magen­ta TV) in Englands Fußball-Kultstät­te sollen nicht Löws Endpunkt sein — sondern nur ein Zwischen­stopp. «Wir wollen den nächs­ten Schritt machen», sagte Thomas Müller, der als histo­risch beleg­ter England-Schreck (zwei Tore beim 4:1 im WM-Achtel­fi­na­le 2010) nach seinen Kniepro­ble­men in die Start­elf zurück­kehrt. «Das Finale ist das Ziel», verkün­de­te sogar der stets positiv denken­de Robin Gosens.

Neben Müller zeich­net sich nur eine weite­re perso­nel­le Änderung ab. Leon Goretz­ka will nach zwei Joker-Einsät­zen endlich von Anfang an losle­gen. Er ist dafür bereit, sagte Löw über den Münch­ner Mucki-Mann. Ilkay Gündo­gan stand zwar nach seiner Schädel­prel­lung beim Abschluss­trai­ning auf dem Platz, doch Löw hat Beden­ken. «Ilkay war nicht vollum­fäng­lich dabei. Man muss da schon ein bisschen Vorsicht walten lassen», sagte Löw bei Magen­ta TV.

Der in der Abwehr gesetz­te Antonio Rüdiger ist nach seiner Erkäl­tung hinge­gen wieder fit. Größe­re Teamum­bau­ten und eine Abkehr vom Spiel­sys­tem mit Dreier­ket­te und drei Angrei­fern scheint Löw nicht zu erwägen. Aller­dings ließ er seinen Schlacht­plan gegen die Three Lions streng geheim einstu­die­ren. Eine Option wäre, die Defen­si­ve zu massie­ren und Joshua Kimmich zentral aufzubieten.

Lieder­abend mit Peter Maffay

Symbol­kraft zieht Löw aus dem Lieder­abend mit Maffay, der mit einigen musika­li­schen Natio­nal­spie­lern an den Gitar­ren zupfte. «Wir haben seine Songs mitge­sun­gen, die Texte kennen ja alle», erzähl­te Löw. Die EM-Paral­le­le zum Kultsong «Über sieben Brücken musst du gehen»: «Die EM hat sieben Spiele. Wir müssen über manche lange Brücke gehen, was beschwer­lich ist. Es war ein schöner gelun­ge­ner Abend», sagte Löw.

Am Diens­tag­abend ist die vierte EM-Brücke dran. Ein großer Kampf wird erwar­tet, womög­lich ein 120-Minuten-Klassi­ker mit dem nervli­chen Höhepunkt eines Elfme­ter-Dramas Teil III — dann natür­lich wieder mit einem deutschen Happy-End wie bei der WM 1990 in Turin und der EM 1996 ebenfalls in London. Wembley war für Löw von Anfang an der Sehnsuchts­ort auf der letzten Missi­on seiner 15 Jahre als Bundes­trai­ner, aber natür­lich erst beim Finale am 11. Juli.

Neuer sah schon immer «Höhen und Tiefen»

London — Rom — London, so soll die Reise­rou­te des DFB-Trosses durch Europa lauten nach den drei Gruppen­spie­len in München, in denen Löws 2021er-Jahrgang mal begeis­ter­te wie beim furio­sen 4:2 gegen Portu­gal und das Publi­kum mal leiden ließ wie beim 2:2 gegen Ungarn. Das mag die schwarz-rot-golde­ne Fan-Gemein­de irritie­ren und verun­si­chern, aber nicht die Spieler und schon gar nicht ihren Trainer. «Seit ich in der Natio­nal­mann­schaft bin, war es nie so, dass wir in einem Turnier einen Durch­marsch hinge­legt haben», erinner­te Kapitän Manuel Neuer am Montag im «Kicker»: «Es gab immer Höhen und Tiefen.»

Gegen England braucht es fraglos ein Turnier-Hoch. Löw hatte vor dem Start dieser kniff­li­gen Corona-EURO ein «sehr ausge­gli­che­nes Turnier» voraus­ge­sagt: «Da entschei­det, wer die beste Konstanz hat, die größte Konzen­tra­ti­on und auch den längs­ten Atem über das Turnier hinweg.»

Es verbie­tet sich eigent­lich, über Diens­tag hinaus­zu­den­ken, auch wenn der Turnier­pfad dazu verlockt. Die Hollän­der sind raus, der Weg für den Sieger des Klassi­kers scheint frei. Er hieße für Deutsche oder Englän­der: Schwe­den oder Ukrai­ne im Viertel­fi­na­le in Rom, danach Tsche­chi­en oder Dänemark im Halbfi­na­le. Die Top-top-top-Natio­nen lauern erst im großen Wembley-Finale.

Jeder kleine Fehler kann entschei­dend sein

Als Turnier-Veteran weiß Löw, dass es jetzt auf jede Kleinig­keit ankommt, dass er richtig aufstel­len und einwech­seln muss, dass jeder Fehler ein entschei­den­der sein kann. «Und natür­lich kommt der Faktor Glück in dem einen oder anderen Spiel oder Moment dazu. Glück braucht man auch, wenn man Turnier­sie­ger werden will», sagte Löw.

Die stets vor und während Turnie­ren groß denken­den Englän­der haben mit ihrer High-Speed-Offen­si­ve um den noch torlo­sen Starstür­mer Harry Kane auch nicht wie ein kommen­der Europa­meis­ter aufge­trumpft. Aber sie haben in engen Spielen gegen Kroati­en (1:0), Schott­land (0:0) und Tsche­chi­en (1:0) kein Tor hinneh­men müssen. Anders als die DFB-Elf, die selbst gegen Ungarn zwei Stück kassier­te, insge­samt schon fünf.

Vom Anfüh­rer der Offen­si­ve kam darum eine klare Defen­siv-Ansage. «Kein Tor kassie­ren», laute der Oberbe­fehl an alle elf Spieler auf dem heili­gen Wembley-Rasen, sagte Müller. Er hofft zudem, dass der Faktor Neuer endlich zum Tragen kommen kann. Wenn schon, müsse man «dem Gegner eine Torchan­ce geben, bei der sich der Manu auszeich­nen kann». Es wird Zeit für einen magischen Neuer-Moment im Turnier.

Kein Training in Wembley

«Wir sind sehr gut vorbe­rei­tet», berich­te­te Gosens. Details aus Löws Match­plan plauder­te er nicht aus. Dessen Ablauf­plan sah ein letztes Training in Wembley vor. Der DFB verzich­te­te darauf dann aber auf UEFA-Ansage zur Schonung des Rasens. Die Deutschen hätten trainie­ren können, aber «nicht darum gebeten», verkün­de­te am Montag wieder­um der Dachver­band. Löw erklär­te, dass das Go der UEFA für ihn zu spät kam.

Sei’s drum: Die Arena wäre beim Atmosphä­re-Aufsau­gen leer gewesen. Am Diens­tag erlaubt die briti­sche Regie­rung erstmals im Turnier gleich 45.000 Zuschau­er. Wegen der Corona-Reise­re­strik­tio­nen aufgrund der Delta-Varian­te werden nur wenige deutsche Anhän­ger im weiten Rund sein. «Es liegt an uns, dafür zu Sorgen, dass Stille im Stadi­on ist», sage Löw. «Dass das ganze Stadi­on gegen uns ist, ist zusätz­li­che Motiva­ti­on», konter­te auch Gosens cool: «Wir wollen dafür sorgen, dass es in Wembley so leise wie möglich ist.» Auch nach dem Schluss­pfiff, der für Löw keiner sein soll.

Die voraus­sicht­li­chen Aufstellungen:

ENGLAND: 1 Pickford — 2 Walker, 5 Stones, 6 Magui­re, 3 Shaw — 14 Phillips, 8 Hender­son, 7 Grealish — 25 Saka, 9 Kane, 10 Sterling

DEUTSCHLAND: 1 Neuer — 4 Ginter, 5 Hummels, 2 Rüdiger — 6 Kimmich, 18 Goretz­ka, 8 Kroos, 20 Gosens — 7 Havertz, 10 Gnabry, 25 Müller

Schieds­rich­ter: Danny Makke­lie (Nieder­lan­de)

Von Klaus Bergmann, Arne Richter und Jens Mende, dpa