HERZOGENAURACH (dpa) — Die Vorfreu­de steigt, die Spannung auch. Deutsch­lands Toptor­schüt­ze Havertz zeigt schon mal, wie cool man in Wembley sein muss. Joachim Löw muss aber ausge­rech­net um zwei England-Exper­ten bangen.

Lässig radel­te Kai Havertz zum Training. Weder die fränki­sche Hitze noch der immer schnel­ler ticken­de Count­down auf die Wembley-Show in seiner Londo­ner Wahlhei­mat konnten den deutschen EM-Toptor­schüt­zen beunruhigen.

«Ein England-Schreck bin ich noch nicht, das kann man noch nicht sagen, hoffent­lich am Diens­tag», sagte der 22-Jähri­ge. Auch Team-Veteran Thomas Müller (31) kickte nach seiner erfreu­li­chen Knie-Entwar­nung entspannt im Kreise der Kolle­gen. Joachim Löw aber stand in Turnschu­hen unter der sengen­den Sonne im Adi-Dassler-Stadi­on und wirkte ein wenig in Gedan­ken versunken.

Frage­zei­chen hinter Rüdiger und Gündogan

Alles unter Kontrol­le. Nur keine übertrie­be­ne Hektik. Und wie Havertz beton­te, ohnehin keine Angst vor einem mögli­chen Elfme­ter­schie­ßen. «Das Ziel bleibt das Finale», sagte der linke Außen­tur­bo Robin Gosens am Sonntag mutig. Das waren die coolen und forschen Signa­le aus dem Teamcamp der Fußball-Natio­nal­mann­schaft vor dem Abflug zum Achtel­fi­nal-Kracher bei der Europa­meis­ter­schaft am Diens­tag (18.00 Uhr/ARD und Magen­ta TV) beim ewigen Rivalen England.

Bundes­trai­ner Löw war aber nicht frei von Sorgen. Ausge­rech­net zwei seiner England-Exper­ten mussten beim vorletz­ten Training passen. Chelsea-Vertei­di­ger Antonio Rüdiger fehlte mit einer Erkäl­tung. Noch unange­neh­mer dürfte der Brumm­schä­del sein, der Ilkay Gündo­gan von Manches­ter City nach einer Schädel­prel­lung aus dem Ungarn-Spiel vom Üben abhielt und ihn womög­lich vorerst um den 50. Länder­spiel­ein­satz bringt. Löw muss vor dem Kräfte­mes­sen mit den Three Lions, das seine Bundes­trai­ner-Ära auf keinen Fall kurz vor seinem 200. Länder­spiel beenden soll, also wieder warten und mögli­cher­wei­se improvisieren.

Gündo­gans Kopfweh könnte für Löw aber auch Entschei­dungs­hil­fe sein. Joshua Kimmich doch wieder in die Zentra­le neben Toni Kroos? Leon Goretz­ka dafür erstmals rein bei diesem Turnier in die Start­elf? Das wären logische Lösun­gen. Zumal der sicht­bar beschwer­de­freie Müller in der Offen­siv­rei­he wieder den Platz des glück­lo­sen Leroy Sané einneh­men kann. Sollte Rüdiger nicht fit werden, stünde Niklas Süle als erste Option bereit. Schnell und kopfball­stark könnten ohnehin sinnvol­le Attri­bu­te gegen England sein. Gosens warnte jeden­falls schon vor dem «großen Speed» von Bukayo Saka und Raheem Sterling.

Kein Abschluss­trai­ning in Wembley

Löw war not amused über die neues­ten Nachrich­ten aus London. Für den eng getak­te­ten 30-Stunden-Trip auf die Insel muss er nämlich manche Wunsch­vor­stel­lun­gen über den Haufen werfen. Das hat nicht nur mit den rigiden Corona-Regula­ri­en im Delta-Varian­ten­ge­biet zu tun, die den Fans aus Deutsch­land die Einrei­se zum Spiel unmög­lich machen und den in Berga­mo die Covid-Schre­cken durch­leb­ten Gosens beunruhigen.

Der heili­ge Rasen in Wembley ist nach vier von acht Spielen unter UEFA-Schutz gestellt worden. Also fällt das von Löw erhoff­te Abschluss­trai­ning im Fußball-Heilig­tum am Montag­abend aus. Statt­des­sen bittet der 61-Jähri­ge noch am Vormit­tag wieder in Herzo­gen­au­rach zum letzten Feinschliff. Erst nachmit­tags startet der DFB-Charter­flie­ger von Nürnberg Richtung England.

In engli­sche «Turnier­wun­de» stechen

Überhaupt ist beim ersten EM-Auswärts­spiel für Kapitän Manuel Neuer und seine Kolle­gen in der Team-Blase alles anders, als bei den letzten London-Reisen mit Löw. 2017 düsten die DFB-Stars in einem Speed­boat über die Themse und schau­ten aus dem Riesen­rad London Eye bis hinauf in den Nordwes­ten der Metro­po­le zum imposan­ten Wembley-Bogen über der Arena. Eine U‑Bahn-Fahrt in der Tube quer durch die Stadt wie 2013? Diesmal unvorstellbar.

Dennoch ist schon angerich­tet für den Klassi­ker. Und verba­les Trommeln gehört zum Standard­pro­gramm. «Wir wollen natür­lich immer wieder in diese engli­sche Turnier­wun­de reinste­chen. Wir wollen sie unsicher machen», sagte Müller bei Magen­ta TV. Deutsch­land gegen England, das war schon immer auch ein Psycho-Duell, angefeu­ert von der gnaden­lo­sen briti­schen Regenbogenpresse.

«Stick Das Boot in, lads!», titele der «Sunday Mirror» mit einem englisch-deutschen Wortspiel, das zum sprich­wört­li­chen Foulspiel aufrief und an den Film-Klassi­ker erinner­te. «Teile der briti­schen Medien sind einfach entsetz­lich und fremden­feind­lich. Dies sind schänd­li­che Schlag­zei­len, die bei den ignoran­tes­ten Briten Gefüh­le schüren, von denen die meisten auch für den Brexit gestimmt haben. Sie denken, es ist wieder 1941», sagte der kriti­sche engli­sche Medien­ex­per­te Mike Collett.

Bierhoff und Köpke mit guten Erinnerungen

Stahl­helm-Assozia­tio­nen gehören zum Reper­toire einer seit dem einzi­gen WM-Sieg 1966 von sport­li­chen Nieder­la­gen gepräg­ten Fußball-Histo­rie. 1970, 1972, 1982, 1990, 1996, 2010: Sechs­mal schei­ter­ten seither die Three Lions mit ihrer Titel-Sehnsucht an Deutsch­land — oft genug wie bei den Halbfi­nal-Dramen bei der WM 1990 und der EM 1996 im Elfme­ter­schie­ßen auf schmerz­haf­te Weise. Für den letzten England‑K.o. beim 4:1 im WM-Achtel­fi­na­le von Bloem­font­ein vor elf Jahren in Südafri­ka, der sich am Sonntag jährte, war Müller mit zwei Toren mitverantwortlich.

Allge­gen­wär­tig sind die leicht verstaub­ten Reminis­zen­zen an den letzten EM-Erfolg 1996 mit dem golde­nen Torschüt­zen Bierhoff und Torwart­trai­ner Andre­as Köpke als Zeitzeu­gen im «Home Ground». Auch wenn sich die junge Genera­ti­on um Havertz (1999) natür­lich nicht daran erinnern kann. Für Müller (1989), der den Triumph von Wembley als kleiner Bub als erstes großes Fußball-Erleb­nis aufsog, ist die Mannschaft der Trumpf auf dem angestreb­ten Weg zum vierten EM-Titel. «Wir haben viele gute Spieler, viele Teamspie­ler, die es verste­hen, im Verbund einen wichti­gen Beitrag zu leisten. Das ist eine Stärke der Fußball­na­ti­on Deutsch­land», beton­te der 105-malige DFB-Spieler.

Die Unter­stüt­zung der Fans wird erzwun­ge­ner­ma­ßen mäßig sein. Mit nur 2000 deutschen Anhän­gern wird gerech­net. Rein dürfen nur Deutsche, die in Großbri­tan­ni­en leben — so die Corona-Verord­nung. «Klar wäre es schön, wenn der eine oder andere im Stadi­on sein könnte. Aber die Atmosphä­re ist trotz­dem ganz cool, wenn du gegen Fans spielst, die nur gegen dich sind», sagte Havertz.

Von Arne Richter, Klaus Bergmann und Jens Mende, dpa