Die Corona-Zahlen steigen auf Mallor­ca seit Wochen stark. Inzwi­schen sind sie so hoch wie sonst kaum wo in Spani­en. Zugleich wachsen Arbeits­lo­sig­keit, sozia­le Not und Hunger.

In der Schlan­ge vor der Kapuzi­ner­kir­che in der Altstadt von Palma de Mallor­ca tragen auffäl­lig viele Sonnen­bril­le — obwohl der Himmel wolken­be­deckt ist. Andere ziehen Kapuze oder Baseball­kap­pe tief ins Gesicht. Sie alle warten auf eine kosten­lo­se Essensausgabe.

An dieser Tafel und an anderen Hilfs­sta­tio­nen der spani­schen Urlaubs­in­sel wird die Zahl der oft verschämt warten­den Bedürf­ti­gen von Woche zu Woche größer. Im Zuge der Corona-Krise nimmt die sozia­le Not in der liebs­ten Party­hoch­burg von Deutschen und Briten drastisch zu. Die Nachfra­ge nach Hilfs­leis­tun­gen sei hier noch nie so groß gewesen, stell­te die Regio­nal­zei­tung «Diario de Mallor­ca» dieser Tage fest.

«Ich habe weder Strom noch Wasser, und auch nichts zu essen», sagte der arbeits­lo­se 53 Jahre alte Kellner Damian der Digital-Zeitung «Cróni­ca Balear». An den Tafeln stellen Obdach­lo­se und Bewoh­ner von Problem­vier­teln längst nicht mehr die Mehrheit. Es stellen sich immer mehr Menschen an, denen man die Armut auf den ersten und auch auf den zweiten oder dritten Blick nicht ansieht.

Vor der Kirche stehen neben Damian junge Uniab­sol­ven­ten, gut geklei­de­te Eltern mit ihren Kindern und Betrei­ber von Hotels und Cafés, die ihre Häuser wegen der ausblei­ben­den Touris­ten dicht machen mussten. Viele waren im von Corona schwer erschüt­ter­ten Gastge­wer­be tätig und verlo­ren ihren Job. Sie sind Not nicht gewohnt, sie leiden und schämen sich.

Sie sind die «nuevos pobres», die «neuen Armen». Sie sind viele, und es werden immer mehr. Nach einer Studie der Univer­si­tät der Balea­ren (UIB) über die Auswir­kun­gen des Virus hat sich die Zahl der in der Region in extre­mer Armut leben­den Menschen in nur einem Jahr auf rund 34 000 verdop­pelt. Als arm gelten bereits 320 000. Das heißt: mehr als jeder Vierte der 1,18 Millio­nen «Baleá­ri­cos».

«Diario de Mallor­ca» bezeich­ne­te 2020 als «das Jahr der weit verbrei­te­ten Armut». Man sehe viele Menschen, die im Auto oder auf der Straße übernach­ten. Das Blatt zitier­te die Koordi­na­to­rin des Roten Kreuzes für die Balea­ren, Juana Lozano, mit der Infor­ma­ti­on, allein in den ersten zehn Monaten des Jahres habe man rund 52.000 Hilfs­pa­ke­te mit Lebens­mit­teln sowie Hygie­ne- und Putzar­ti­keln verteilt. Im gesam­ten Jahr 2019 seien es 11.000 gewesen.

Als die UIB Ende Novem­ber ihre Studie veröf­fent­lich­te, warnte die Leite­rin des Sozia­len Obser­va­to­ri­ums der UIB, Maria Antònia Carbone­ro: Die sozia­le Not werde sich im Laufe des Winters verschär­fen. Es gebe nicht genug Mittel, um allen Notlei­den­den zu helfen. «Die Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen sind überfor­dert», sagte sie.

Dabei konnte Carbone­ro zu dem Zeitpunkt nicht ahnen, was in den darauf­fol­gen­den Wochen passie­ren würde: Trotz stren­ger Einschrän­kun­gen der Bewegungs- und Versamm­lungs­frei­heit — darun­ter einer schon seit Ende Oktober gelten­den nächt­li­chen Ausgangs­sper­re — stiegen die Corona-Zahlen massiv. Inzwi­schen verzeich­nen die Balea­ren erschre­cken­de Werte, die in ganz Spani­en unerreicht sind.

Zuletzt kletter­te die Zahl der Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­ner binnen 14 Tagen auf 530, wie die Gesund­heits­be­hör­den mitteil­ten. Wochen­lang waren die Balea­ren unange­foch­ten das Epizen­trum der Pande­mie in Spani­en gewesen, am Montag wurden sie von Extre­ma­du­ra überholt. In Regio­nen wie Madrid, Katalo­ni­en oder Valen­cia — die wegen ihrer Lage nicht so isoliert sind wie die Inseln oder Extre­ma­du­ra an der wenig besuch­ten Grenze zu Portu­gal — war diese 14-Tage-Inzidenz mit Werten von zum Teil deutlich unter 400 weit niedri­ger. Zum Vergleich: In Deutsch­land betrug dieser Wert zuletzt nach Angaben der EU-Behör­de ECDC 379, in ganz Spani­en 271.

Auf Mallor­ca, wo die 14-Tage-Inzidenz nach jüngs­ten amtli­chen Angaben sogar bei 608 lag, geht die Angst um. Der Winter könnte noch «heißer» werden als von Carbone­ro befürch­tet. Man hat Angst vor einem Kollaps der Inten­siv­sta­tio­nen, die immer voller werden. «Wir erleben eine schreck­li­che Situa­ti­on, die wir uns auch nicht in unseren schlimms­ten Träumen hätten vorstel­len können», räumte Regio­nal­prä­si­den­tin Franci­na Armen­gol kurz vor Silves­ter ein.

Wegen der schier unauf­hör­lich steigen­den Zahlen wurden die Maßnah­men zur Eindäm­mung der Pande­mie nach Weihnach­ten wieder verschärft. Bars und Restau­rant müssen seit dem 29. Dezem­ber auf Mallor­ca werktags vier Stunden früher — um 18 Uhr — schlie­ßen. Der Laden­schluss wurde von 22 Uhr auf 20 Uhr weiter vorge­zo­gen. Eine nennens­wer­te Locke­rung der Einschrän­kun­gen sei bis Febru­ar nicht zu erwar­ten, sagte am Montag Regie­rungs­spre­che­rin Pilar Costa.

Man weiß auf Mallor­ca, dass die Restrik­tio­nen nötig sind. Immer­hin starben auf den Balea­ren-Inseln bereits 477 Menschen mit Covid-19. Man hat gleich­zei­tig aber große Angst vor einem länge­ren Lockdown. Dieser könnte dem für die Insel überle­bens­wich­ti­gen Touris­mus den endgül­ti­gen Todes­stoß verset­zen, wie Unter­neh­mer der Branche warnen, die für 35 Prozent des Regio­nal­ein­kom­mens sorgt.

Der Ängste damit aber nicht genug. Im Zuge der wachsen­den sozia­len Not gebe es mehr kleine­re Überfäl­le und Einbrü­che unter anderem auch auf Privat­häu­ser, berich­ten Medien schon seit Wochen. Die Zeitung «Última Hora» sprach von «verzwei­fel­ten Amateur­ta­ten», die allem Anschein nach mit der Krise zu tun hätten. Schau­fens­ter würden zum Beispiel mit Ziegel­stei­nen eingeschlagen.

Aus den offizi­el­len Zahlen geht zwar noch keine Verschlim­me­rung der Sicher­heits­la­ge hervor. Aber trotz­dem profi­tie­ren einige von den Sorgen. Im Herbst hätten Firmen, die Alarm­an­la­gen und andere Warnsys­te­me instal­lie­ren, ein «rekord­ver­däch­ti­ges» Anfra­ge­vo­lu­men regis­triert, berich­te­te das «Mallor­ca Magazin» unter Berufung auf den Makler­ver­band der Balea­ren (ABSI). «Uns steht ein schreck­li­cher Winter mit vielen Einbrü­chen bevor. Das ist schlimm», zitier­te das Blatt eine Bewoh­ne­rin aus Puig de Ros.

Nicht nur sie sieht im Sonnen­pa­ra­dies dunkle Wolken aufzie­hen. Rentne­rin Catali­na (81), die jeden Tag mit Freun­din Maria (76) vor der Kapuzi­ner­kir­che Schlan­ge steht, drückt sich deutli­cher aus: «Die Menschen hier in den Schlan­gen werden immer mehr. Wenn das so weiter geht, gibt es hier Krieg.»