Rechts­staat­lich­keit und Meinungs­frei­heit sind im Corona-Jahr unter die Räder gekom­men — auch in Deutsch­land. Das bemän­gelt Amnes­ty Inter­na­tio­nal, ebenso wie fehlen­de Fairness im Kampf gegen das Virus.

BERLIN/LONDON (dpa) — Amnes­ty Inter­na­tio­nal beklagt eine deutli­che Verschlech­te­rung der Menschen­rechts­la­ge für Millio­nen Menschen weltweit im Zuge der Corona-Krise.

In vielen Regio­nen habe die Pande­mie Ungleich­heit, Diskri­mi­nie­rung und Unter­drü­ckung verstärkt, erklär­te die Organi­sa­ti­on anläss­lich der Veröf­fent­li­chung ihres Jahres­be­richts. Die Krise sei von zahlrei­chen Staaten missbraucht worden, um Rechts­staat­lich­keit und Meinungs­frei­heit weiter einzuschränken.

Amnes­ty kriti­siert aber vor allem das Agieren der reichen Länder im Kampf gegen das Virus scharf. «Die Pande­mie hat auch die Mittel­mä­ßig­keit und Verlo­gen­heit, den Egois­mus und den Betrug unter den Macht­ha­ben­den dieser Welt verstärkt», schreibt Amnes­ty-General­se­kre­tä­rin Agnès Callamard im Vorwort zu dem Bericht.

Dieser prangert vor allem die Benach­tei­li­gung ärmerer Länder bei der Vertei­lung vom Impfstoff an. Die für eine gerech­te Versor­gung gegrün­de­te Covax-Initia­ti­ve der Weltge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on sei von Russland, den USA und anderen Ländern unter­mi­niert worden. Auch hätten mehr als 90 Länder Export­be­schrän­kun­gen für medizi­ni­sches Gerät, Schutz­aus­rüs­tung, Arznei- und Nahrungs­mit­tel verhängt. «Die Pande­mie hat die Aufmerk­sam­keit darauf gelenkt, dass die Welt derzeit unfähig ist, bei einem globa­len Ereig­nis mit großen Auswir­kun­gen effek­tiv und gerecht zusam­men­zu­ar­bei­ten», bilan­ziert Callamard den bishe­ri­gen weltwei­ten Kampf gegen die Pandemie.

Amnes­ty nennt im Jahres­be­richt mehre­re Berei­che, in denen die Missstän­de infol­ge der Corona-Pande­mie beson­ders groß seien:

- BESCHÄFTIGTE IM GESUNDHEITSWESEN würden nicht ausrei­chend vor einer Infek­ti­on mit dem Corona­vi­rus geschützt. «Es ist bezeich­nend, dass statis­tisch betrach­tet im letzten Jahr alle 30 Minuten eine im Gesund­heits­we­sen arbei­ten­de Person mit Covid-19 gestor­ben ist», sagt Amnes­ty-Deutsch­land­chef Markus Beeko. Kritik an den Arbeits­be­din­gun­gen habe zu Festnah­men, Entlas­sun­gen oder anderen Straf­maß­nah­men geführt. In 42 von 149 unter­such­ten Ländern hätten staat­li­che Stellen Gesund­heits­per­so­nal in Zusam­men­hang mit der Pande­mie drang­sa­liert oder eingeschüchtert.

- FLÜCHTLINGE UND MIGRANTEN: Ihre Situa­ti­on hat sich laut Amnes­ty während der Pande­mie deutlich verschlech­tert. In ebenfalls 42 Staaten habe es Berich­te über Abschie­bun­gen von Flücht­lin­gen und Migran­ten in Länder gegeben, in denen ihnen Menschen­rechts­ver­let­zun­gen drohten. Grenz­schlie­ßun­gen hätten Menschen ohne Grund­ver­sor­gung stran­den lassen, viele seien in Lagern ohne sanitä­re Grund­aus­stat­tung festge­setzt worden, oft fehlten saube­res Wasser und wichti­ge Hygieneartikel.

- REPRESSION: Gewalt in politi­schen Konflik­ten habe ebenso zugenom­men wie Einschrän­kun­gen von Meinungs‑, Versamm­lungs- und Presse­frei­heit. Kriti­ker der Corona-Politik ihrer Regie­run­gen seien vieler­orts gezielt verfolgt und unter­drückt worden. «Zahlrei­che Staaten missbrauch­ten die Gesund­heits­kri­se um weiter rechts­staat­li­che Prinzi­pi­en aufzu­lö­sen und Rechte einzu­schrän­ken», sagt Beeko.

- DISKRIMINIERUNG: In vielen Weltre­gio­nen sei ein erheb­li­cher Anstieg von häusli­cher Gewalt festge­stellt worden. Für viele Frauen sowie lesbi­sche, schwu­le, bisexu­el­le, trans- und inter­se­xu­el­le (LGBTI) Menschen seien in der Pande­mie Schutz- und Hilfs­an­ge­bo­te nicht mehr verfüg­bar. In mindes­tens 24 Länder dokumen­tier­te Amnes­ty «glaub­wür­di­ge Vorwür­fe», dass Menschen aufgrund ihrer sexuel­len Orien­tie­rung oder Geschlechts­iden­ti­tät festge­nom­men worden seien — ein Anstieg von 16 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.

Im Kapitel zu Deutsch­land im Amnes­ty-Bericht werden unter anderem rechte Aktivi­tä­ten bei der Polizei und anderen Sicher­heits­kräf­ten kriti­siert. «Weder auf Landes- noch auf Bundes­ebe­ne wurden unabhän­gi­ge Beschwer­de­stel­len einge­rich­tet, um diskri­mi­nie­ren­des und rechts­wid­ri­ges Verhal­ten der Polizei unabhän­gig zu unter­su­chen», heißt es darin. Ende 2020 habe es in sechs Bundes­län­dern weiter­hin keine indivi­du­el­le Kennzeich­nungs­pflicht für Polizei­kräf­te gegeben. «Der deutsche Rechts­staat weist ausge­rech­net dort Lücken auf, wo es um Trans­pa­renz und Kontrol­le der Polizei geht — wichti­ge inter­na­tio­na­le Menschen­rechts­stan­dards werden hier nicht einge­hal­ten», sagt die Amnes­ty-Exper­tin für dieses Thema, Maria Scharlau.