HAMBURG (dpa) — Er spiel­te Hamlet und Hitler, ist aber auch als Vice-Questo­re Patta aus den «Donna Leon»-Filmen der ARD bekannt. Zudem hat sich Micha­el Degen als Buchau­tor einen Namen gemacht.

Shake­speares Hamlet hat er 300 Mal gespielt. Er wirkte im Ensem­ble von Bertolt Brecht am Deutschen Theater Berlin, feier­te Erfol­ge auf bedeu­ten­den Bühnen in München, Hamburg, Salzburg und Wien. Dabei gehör­ten Größen wie Ingmar Bergman und Peter Zadek, Claude Chabrol und George Tabori zu seinen Regisseuren.

Doch einem Millio­nen­pu­bli­kum dürfte Micha­el Degen vor allem als lächer­lich eitler Vice-Questo­re Patta aus den «Donna Leon»-Krimis im Ersten gegen­wär­tig sein. Von 2000 bis 2019 verlieh er stets im perfek­ten Maßan­zug mit einem Augen­zwin­kern dem venezia­ni­schen Staats­die­ner dessen beson­de­re Statur. An diesem Montag (31. Januar) wird der Schau­spie­ler und Buchau­tor («Nicht alle waren Mörder») 90 Jahre alt.

Patta vermisst er nicht

An seinem Geburts­tag will Degen mit seiner dritten Ehefrau, einer Journa­lis­tin, in seinem Wohnort Hamburg feiern. Auf seine Parade­rol­le Patta angespro­chen, sagt er der Deutschen Presse-Agentur: «Ich vermis­se ihn nicht, ich weiß nicht einmal, ob ich ihn beson­ders mag. Aber die Zuschau­er mögen ihn ganz offen­sicht­lich — und das erstaun­li­cher­wei­se nicht nur in Europa.»

Der beschei­den auftre­ten­de Schau­spie­ler mit Gentle­man-Ausstrah­lung hat dazu eine Anekdo­te parat. «Vor einigen Jahren waren meine Frau und ich in Quebec in Kanada. Wir aßen im Hotel ‘Château Frontenac’ hoch über dem Sankt-Lorenz-Strom zu Abend, als ein Herr und eine Dame angeschos­sen kamen und atemlos sagten, sie müssten mich jetzt sofort küssen, weil ihnen der Vice Questo­re im franzö­si­schen Fernse­hen so sehr gefällt. Nun ja, es war vor Corona — ich habe es ihnen gestat­tet», erinnert er sich spürbar amüsiert.

Degen, der 1932 in Chemnitz als Sohn eines Sprachen­pro­fes­sors und Kaufmanns russisch-jüdischer Herkunft zur Welt kam, ist das Kunst­stück gelun­gen, sowohl in schwe­ren Theater- und TV-Rollen als auch im leich­ten Bereich («Diese Drombuschs», «Klinik unter Palmen», «Der Alte») zu begeistern.

Auf der Flucht vor der Gestapo

Leidvoll verlie­fen dagegen seine in Berlin verbrach­ten Jugend­jah­re. Auf der Flucht vor der Gesta­po nahm der junge jüdische Mann ab 1943 mit seiner Mutter Anna falsche Identi­tä­ten an, beide wurden schließ­lich von einem Ehepaar in einer Lauben­ko­lo­nie versteckt und geret­tet. Da war der Vater längst an den Folgen seiner Haft im KZ Sachsen­hau­sen gestorben.

Nach einer Schau­spiel­aus­bil­dung ab 1946 am Deutschen Theater emigrier­te Degen auf Wunsch seiner Mutter nach Israel, fand dort seinen älteren Bruder Adolf wieder. Er lernte Neuhe­brä­isch und wurde an die Kammer­spie­le von Tel Aviv engagiert. Doch nach zwei Jahren kehrte er nach Deutsch­land zurück. Der Sehnsucht nach seiner Mutter­spra­che wegen, wie er später erklärte.

Jahrzehn­te danach, 1999, veröf­fent­lich­te der Vater von vier Kindern seine Lebens­ge­schich­te. «Nicht alle waren Mörder — Eine Kindheit in Berlin» wurde ein Bestsel­ler. Jo Baier verfilm­te Degens Erinne­run­gen mit Aaron Altaras und Nadja Uhl 2006 für die ARD. Wie sehr wühlen Gedan­ken an die NS-Zeit noch heute in ihm? «Es gibt Menschen, die mir naheste­hen und behaup­ten, ich hätte mir mit meinem Beruf den Gang zum Thera­peu­ten erspart. Da mag etwas Wahres dran sein», antwor­tet der mit der angese­he­nen Kainz-Medail­le ausge­zeich­ne­te Degen schlicht.

Sein Schaf­fen hat für ihn auch einen politi­schen Aspekt. TV-Rollen wie der jüdische Geschäfts­mann in Egon Monks Dreitei­ler «Die Geschwis­ter Opper­mann» (1983) nach dem Roman von Lion Feucht­wan­ger oder Degen als Adolf Hitler in Micha­el Kehlmanns Zweitei­ler «Gehei­me Reichs­sa­che» (1988) stehen dafür. Ebenso seine Auftrit­te ab 2010 in Thomas Bernhards Drama «Helden­platz» über den sogenann­ten Anschluss Öster­reichs 1938 im Wiener Theater in der Josefstadt.

Bitte­rer Blick auf heute

Auf aktuel­le Entwick­lun­gen blickt der Schau­spie­ler nicht ohne Bitter­keit. «Dass junge deutsche Juden wieder um ihr Leben fürch­ten müssen, dass Antise­mi­tis­mus und Rassis­mus nicht zu tilgen sind, lässt mich mit ohnmäch­ti­ger Wut zurück. Ich habe mit so vielen Rollen, mit meinen Büchern und in Inter­views versucht, meinen Teil dazu beizu­tra­gen, das Bewusst­sein der Menschen zu schär­fen und sie zum (Um)Denken zu bewegen», formu­liert Degen. Er zieht ein skepti­sches Resümee: «Aber ich bezweif­le, dass es etwas genützt hat. Glauben Sie mir, das ist keine befrie­di­gen­de Bilanz nach 90 Jahren Leben.»

Doch der Künst­ler, dem es «in Anbetracht meines Alters ganz ordent­lich» geht, kann sein Dasein auch sehr genie­ßen. «Wenn es die Situa­ti­on erlaubt, reisen wir», verrät er der dpa. «Schon vor Beginn der Pande­mie haben wir uns ein kleines Wohnmo­bil gekauft. Im Herbst waren wir in Kroati­en, und als dort das Wetter schlech­ter wurde, sind wir kurzer­hand nach Itali­en gefah­ren. Venedig, Florenz, Rom — alles bequem in den eigenen vier Wänden, Corona-konform und vollkom­men unabhän­gig.» Und Degen alias Patta fügt hinzu: «Dank der Maske hat in Venedig diesmal auch niemand gefragt, wo ich denn Commis­sa­rio Brunet­ti gelas­sen habe.»

Von Ulrike Cordes, dpa