BRÜSSEL (dpa) — Polen und Ungarn stellen sich auf dem EU-Gipfel klar gegen den Asylkom­pro­miss. Das hat darauf zwar keine direk­ten Konse­quen­zen, könnte aber weite­re EU-Vorha­ben gefährden.

Der EU steuert wegen des ungelös­ten Streits um Pläne für eine weitrei­chen­de Asylre­form auf eine neue Zerreiß­pro­be zu. Ungarn und Polen verhin­der­ten am Freitag bei einem Gipfel­tref­fen in Brüssel eine gemein­sa­me Erklä­rung zur Migra­ti­ons­po­li­tik und drohten weite­re Schrit­te an. Die beiden Staaten protes­tier­ten dagegen, dass die Asylplä­ne vor rund drei Wochen gegen ihren Willen per Mehrheits­ent­schei­dung auf den Weg gebracht wurden. Aus Sicht von Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) und EU-Kommis­si­ons­prä­si­den­tin Ursula von der Leyen wird die Blocka­de den Gesetz­ge­bungs­pro­zess aller­dings nicht aufhalten.

Der ungari­sche Minis­ter­prä­si­dent Viktor Orban sprach am Rande des Gipfels im staat­li­chen Radio von einem «Migra­ti­ons­krieg» im Sitzungs­saal. Die Haltung Polens und Ungarns beschrieb er mit den Worten: «Es war ein Freiheits­kampf, kein Aufstand!» Luxem­burgs Premier­mi­nis­ter Xavier Bettel empör­te sich über die Haltung Polens und Ungarns. «Sie sagen einfach: Wir sind nicht einver­stan­den, dass die Mehrheit was entschie­den hat, mit dem wir nicht einver­stan­den sind.»

Mühsam aus ganz verschie­de­nen Gründen

Auch Deutsch­land steht zwar nur mit äußers­ter Mühe hinter dem nach jahre­lan­gem Streit von den Innen­mi­nis­tern ausge­han­del­ten Asylkom­pro­miss. Das hat aller­dings ganz andere Gründe als Ungarn und Polen anfüh­ren. Grüne und SPD quält, dass Asylver­fah­ren angesichts der Proble­me mit illega­ler Migra­ti­on deutlich verschärft werden sollen und zum Beispiel Minder­jäh­ri­ge unter haftähn­li­chen Bedin­gun­gen in streng kontrol­lier­te Einrich­tung kommen könnten. Ob das wirklich so kommt, muss noch mit dem Europa­par­la­ment ausge­han­delt werden, das bei dem Thema ein Mitspra­che­recht hat.

Polen und Ungarn wollen hinge­gen nicht zur Solida­ri­tät mit Ländern wie Itali­en und Griechen­land gezwun­gen werden, in denen viele Migran­ten ankom­men. Die EU-Pläne sehen vor, dass die Aufnah­me von Flücht­lin­gen künftig nicht mehr freiwil­lig, sondern verpflich­tend sein soll. Länder, die keine Flücht­lin­ge aufneh­men wollen, müssten zum Ausgleich Geld zahlen.

Genau das ist aus Sicht von Scholz der Schlüs­sel: Wer keine Flücht­lin­ge aufneh­men wolle, könne seinen fairen Anteil über finan­zi­el­le Betei­li­gung tragen. «Und das ist aus meiner Sicht völlig plausi­bel, dass das nachher dann auch die Praxis wird in Europa, das eine oder das andere», sagte Scholz.

Ungarn will sich mit «Zähnen und Klauen» wehren

Orban kündig­te am Freitag hinge­gen an, man werde «mit Händen und Füßen, mit Zähnen und Klauen» gegen die geplan­te Regelung ankämp­fen. Er drohte damit, EU-Gelder für die Liefe­rung von Waffen und Ausrüs­tung an die ukrai­ni­schen Streit­kräf­te weiter zu blockie­ren. Polen forder­te beim Gipfel, jedes EU-Land solle selbst entschei­den können, wie es Staaten mit beson­ders hohen Migra­ti­ons­zah­len unterstützt.

Dass das neue Asylrecht zustan­de kommt, ist vor allem im Inter­es­se Itali­ens, wo viele Menschen auf der Mittel­meer­rou­te ankom­men. Trotz des Heckmecks auf dem Gipfel zeigte sich die italie­ni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Georgia Meloni aber hochzu­frie­den. Bei der exter­nen Dimen­si­on der Migra­ti­on – also letzt­lich der Frage, wie Migran­ten von der Überfahrt übers Mittel­meer abgehal­ten werden – seien sich alle 27 Staaten einig. Die Einwän­de Polens und Ungarns bezögen sich auf die inter­ne Vertei­lung Geflüch­te­ter auf die Mitglieds­staa­ten. «Ich bin nicht enttäuscht über die Haltung Polens und Ungarns, ich bin nie enttäuscht von denen, die ihre natio­na­len Inter­es­sen vertei­di­gen», sagte die rechts­na­tio­na­le Politikerin.

Die Situa­ti­on erinnert an die Hochpha­se der Flücht­lings­kri­se 2015/2016. Im Zuge der stark steigen­den Migran­ten­zah­len war schon damals gegen den Willen von Ländern wie Ungarn und Polen ein Vertei­lungs­schlüs­sel beschlos­sen worden, der nicht akzep­tiert wurde und zu Verfah­ren am Europäi­schen Gerichts­hof führten.

Folgen jetzt Blocka­den bei anderen Beschlüssen?

Ob und wenn ja welche Konse­quen­zen der Konflikt haben wird, ist unklar. Als Risiko gilt, dass Ungarn und Polen aus Protest gegen die Mehrheits­ent­schei­dung der Innen­mi­nis­ter andere wichti­ge EU-Entschei­dun­gen blockie­ren, bei denen einstim­mi­ge Beschlüs­se erfor­der­lich sind. So muss zum Beispiel in den nächs­ten Monaten eine Einigung darüber gefun­den werden, wie Lücken im langfris­ti­gen EU-Haushalt gefüllt werden sollen.

Hoffnung in der EU ist, dass zumin­dest die polni­sche Politik ein Stück weit dem derzei­ti­gen Wahlkampf geschul­det ist und sich die Lage nach der Parla­ments­wahl im Herbst entspan­nen könnte. Zunächst aber scheint sich der Ton dadurch eher noch zu verschär­fen. Regie­rungs­chef Mateusz Morawi­ecki nutzte am Freitag die jüngs­ten Krawal­le in Frank­reich für seine Argumen­ta­ti­on gegen die Asylre­form. «Geplün­der­te Geschäf­te, verwüs­te­te Restau­rants, brennen­de Polizei­au­tos und Barri­ka­den auf den Straßen — wollen wir so ein Bild in Polen sehen?», fragte er.

Ein weite­res Risiko für das Projekt der Asylre­form sind Forde­run­gen aus dem Europa­par­la­ment, die denen der deutschen Bundes­re­gie­rung entspre­chen. Im Kreis der Mitglied­staa­ten wird befürch­tet, dass zum Beispiel Ausnah­men für Minder­jäh­ri­ge von stren­gen Asylver­fah­ren dazu führen könnte, dass Länder wie Itali­en ihre Zustim­mung zu dem Projekt am Ende wieder zurück­zie­hen. Die jahre­lan­gen Arbei­ten wären dann vermut­lich umsonst gewesen.

Von Ansgar Haase und There­sa Münch, dpa