FRANKFURT/MAIN (dpa) — Lange hat die EZB gezögert, nun erhöht sie das Tempo bei der Zinswen­de. Eine histo­ri­sche Zinser­hö­hung soll die Rekord­in­fla­ti­on im Euroraum eindäm­men. Die Währungs­hü­ter müssen in Kauf nehmen, dass ihr Kurs die angeschla­ge­ne Wirtschaft weiter schwä­chen kann.

Die Rekord­in­fla­ti­on im Euroraum treibt die Euro-Währungs­hü­ter zur größten Zinser­hö­hung der EZB-Geschich­te. Die Noten­bank hebt den Leitzins im Euroraum trotz wachsen­der Sorgen vor einem Absturz der Wirtschaft in eine Rezes­si­on um 0,75 Prozent­punk­te auf 1,25 Prozent an.

Die Teuerungs­ra­ten seien «nach wie vor deutlich zu hoch», begrün­de­te die Präsi­den­tin der Europäi­schen Zentral­bank (EZB), Chris­ti­ne Lagar­de, am Donners­tag in Frank­furt. Im EZB-Rat habe Einig­keit darüber bestan­den, dass weite­re Zinsan­he­bun­gen in den nächs­ten Monaten wahrschein­lich seien. Banken­ver­bän­de und Volks­wir­te in Deutsch­land begrüß­ten, dass die Noten­bank sich nun mit höherem Tempo von ihrer ultra­lo­cke­ren Geldpo­li­tik verabschiedet.

Anleger dürfen nach einer jahre­lan­gen Flaute somit wieder auf Zinsen auf dem Sparkon­to hoffen. Dafür spricht auch, dass Banken nach der Abschaf­fung der Straf­zin­sen im Juli künftig wieder 0,75 Prozent Zinsen erhal­ten, wenn sie Gelder bei der EZB parken. Anderer­seits dürften sich zum Beispiel Immobi­li­en­kre­di­te weiter verteuern.

Nach langem Zögern hatte der EZB-Rat bei seiner Sitzung am 21. Juli erstmals seit elf Jahren die Zinsen im Euroraum wieder angeho­ben. Für die Septem­ber-Sitzung hatte die Noten­bank seiner­zeit eine weite­re Zinser­hö­hung um 0,5 Prozent­punk­te in Aussicht gestellt.

Höhere Zinsen gegen steigen­de Inflation

Doch weil die Teuerungs­ra­te zuletzt weiter anzog, nahm der Druck auf die Euro-Währungs­hü­ter zu, einen größe­ren Schritt zu beschlie­ßen. Höhere Zinsen können steigen­den Teuerungs­ra­ten entge­gen­wir­ken, sie sind aber zugleich Ballast für die ohnehin schwä­cheln­de Wirtschaft.

«Die EZB hat mittler­wei­le Angst, dass ihr die Felle davon­schwim­men und sie in ein jahre­lan­ges Infla­ti­ons­pro­blem hinein­läuft», kommen­tier­te Dekabank-Chefvolks­wirt Ulrich Kater. Sein Kolle­ge von der DZ Bank, Micha­el Holstein, findet, die kräftig­te Zinser­hö­hung komme zu spät, denn die Euro-Wirtschaft befin­de sich bereits auf dem Weg in die Rezes­si­on — «doch ein länge­res Warten wäre noch teurer als ein beherz­tes Gegen­steu­ern in wirtschaft­lich unsiche­ren Zeiten».

Ifo-Präsi­dent Clemens Fuest kommen­tier­te: «Besser spät als nie.» Dennoch bleibe die Geldpo­li­tik sehr expan­siv. «In den nächs­ten Monaten werden weite­re Zinser­hö­hun­gen folgen müssen. Die Zinsen seien nach wie vor sehr niedrig.

Die Verbän­de von Privat­ban­ken, Genos­sen­schafts­ban­ken und Sparkas­sen in Deutsch­land begrüß­ten die histo­ri­sche Zinser­hö­hung. Die Entschei­dun­gen seien aller­dings «nur eine Etappe auf dem Weg zu einem angemes­se­nen Zinsni­veau», befand der Präsi­dent des Deutschen Sparkas­sen- und Girover­ban­des (DSGV), Helmut Schle­weis. «Weite­re Zinsan­he­bun­gen müssen folgen, damit die Menschen der EZB und ihrem Verspre­chen stabi­ler Preise auch weiter glauben können.»

Kein Ende in Sicht

Ein Ende der Preis­stei­ge­run­gen im Euroraum ist nicht in Sicht: Im August kletter­te die Infla­ti­on im Währungs­raum der 19 Länder getrie­ben von steigen­den Energie- und Lebens­mit­tel­prei­sen auf die Rekord­hö­he von 9,1 Prozent. Die EZB rechnet für das Gesamt­jahr 2022 inzwi­schen mit 8,1 Prozent Infla­ti­on. Auch im kommen­den Jahr wird die Teuerungs­ra­te nach Einschät­zung der Noten­bank im Jahres­schnitt mit 5,5 Prozent deutlich über der Zielmar­ke der EZB verharren.

Die Noten­bank strebt für den gemein­sa­men Währungs­raum mittel­fris­tig ein stabi­les Preis­ni­veau bei einer jährli­chen Teuerungs­ra­te von zwei Prozent an. Getrie­ben wird die Infla­ti­on seit Monaten vor allem von steigen­den Energie- und Lebens­mit­tel­prei­sen, die nach dem russi­schen Angriff auf die Ukrai­ne nochmals kräftig anzogen.

Die EZB hatte die hohe Infla­ti­on lange als vorüber­ge­hend inter­pre­tiert und leite­te deutlich später als viele andere Zentral­ban­ken die Zinswen­de ein. Die US-Noten­bank Fed beispiels­wei­se hat ihre Leitzin­sen bereits mehrfach nach oben geschraubt, dabei zweimal um jeweils 0,75 Prozent­punk­te. Lagar­de räumte ein, dass die EZB bei ihren Einschät­zun­gen Fehler gemacht habe.

Für immer mehr Menschen werde die hohe Infla­ti­on zu einer enormen Belas­tung, hatte Bundes­bank-Präsi­dent Joachim Nagel jüngst gesagt und eine «kräfti­ge Zinsan­he­bung» im Septem­ber angemahnt. Die Geldpo­li­tik müsse die hohe Teuerung entschlos­sen bekämp­fen, hatte Nagel betont.

Zugleich gibt es unter Währungs­hü­tern Sorge, mit einer zu schnel­len Norma­li­sie­rung der zuvor jahre­lang ultra­lo­cke­ren Geldpo­li­tik die Konjunk­tur zu bremsen, die ohnehin mit Liefer­eng­päs­sen und den Folgen des Ukrai­ne-Krieges etwa auf dem Energie­markt zu schaf­fen hat. Die Sorge vor einem Absturz der Wirtschaft in eine Rezes­si­on ist groß.

Mit monetä­ren Mitteln ließen sich «weder Energie­re­ser­ven herzau­bern, noch Energie­prei­se senken, noch die Dauer der Energie­kri­se verkür­zen», gab Otmar Lang, Chefvolks­wirt der Targobank, trotz seiner grund­sätz­li­chen Zustim­mung zum EZB-Kursschwenk zu bedenken.

Wachs­tum erwartet

Kritisch sieht der Sprecher der deutschen Grünen im Europa­par­la­ment, Rasmus Andre­sen, die EZB-Entschei­dun­gen: «Liefer­eng­päs­se, Russlands Angriffs­krieg und enorme Überschuss­ge­win­ne aufsei­ten der Unter­neh­men lassen sich nicht durch die Zinspo­li­tik der EZB auflösen.»

Aller­dings traut die EZB der Wirtschaft im Euroraum nach starken ersten sechs Monaten im Gesamt­jahr 2022 inzwi­schen etwas mehr Wachs­tum zu als noch im Juni angenom­men: Die Vorher­sa­ge geht nun von 3,1 Prozent Plus aus, im Juni hatte die Noten­bank für 2022 noch 2,8 Prozent Wachs­tum erwartet.

«Nach einer Erholung des Wirtschafts­wachs­tums im Euroraum im ersten Halbjahr 2022 deuten jüngs­te Daten auf eine erheb­li­che Verlang­sa­mung hin. Für den weite­ren Jahres­ver­lauf und das erste Quartal 2023 wird mit einer wirtschaft­li­chen Stagna­ti­on gerech­net», erklär­te die EZB. Im nächs­ten Jahr wird das Brutto­in­lands­pro­dukt (BIP) im Währungs­raum der EZB-Einschät­zung zufol­ge nicht um 2,1 Prozent, sondern nur um 0,9 Prozent wachsen.

Von Jörn Bender und Alexan­der Sturm, dpa