BERLIN/KIEW (dpa) — Der Bundes­prä­si­dent ist in Kiew unerwünscht, der Kanzler dagegen willkom­men. Die Entschei­dung sorgt in Deutsch­land teils für schar­fe Kritik. Ein Berater des ukrai­ni­schen Präsi­den­ten vertei­digt hinge­gen den Beschluss.

Nach der ukrai­ni­schen Ableh­nung eines Besuchs von Bundes­prä­si­dent Frank-Walter Stein­mei­er hat der SPD-Frakti­ons­chef Rolf Mützenich alle demokra­ti­schen Partei­en aufge­ru­fen, das Staats­ober­haupt «vor ungerecht­fer­tig­ten Angrif­fen» zu schützen.

«Die Erklä­rung der ukrai­ni­schen Regie­rung, dass ein Besuch des Bundes­prä­si­den­ten in Kiew derzeit unerwünscht ist, ist bedau­er­lich und wird den engen und gewach­se­nen Bezie­hun­gen zwischen unseren Ländern nicht gerecht», sagte Mützenich am Mittwoch in Berlin.

Er warnte die Ukrai­ne gleich­zei­tig vor einer Einmi­schung in die deutsche Innen­po­li­tik. «Bei allem Verständ­nis für die existen­zi­el­le Bedro­hung der Ukrai­ne durch den russi­schen Einmarsch erwar­te ich, dass sich ukrai­ni­sche Reprä­sen­tan­ten an ein Mindest­maß diplo­ma­ti­scher Gepflo­gen­hei­ten halten und sich nicht ungebühr­lich in die Innen­po­li­tik unseres Landes einmi­schen», sagte er. Der ukrai­ni­sche Botschaf­ter Andrij Melnyk hat Stein­mei­er für seine Russland-Politik in der Vergan­gen­heit, aber auch die Bundes­re­gie­rung für ihre Zurück­hal­tung bei Sanktio­nen gegen Russland und Waffen­lie­fe­rung mehrfach in ungewöhn­lich schar­fer Form kritisiert.

Scholz nach Kiew eingeladen

Nach der Absage an Stein­mei­er lädt die Ukrai­ne Kanzler Olaf Scholz (SPD) nach Kiew ein. «Das haben wir auch so kommu­ni­ziert, dass mein Präsi­dent und die Regie­rung sich darauf sehr freuen würden, wenn der Bundes­kanz­ler Olaf Scholz Kiew besucht», sagte der ukrai­ni­sche Botschaf­ter in Berlin, Andrij Melnyk, am Diens­tag­abend auf ProSie­ben und SAT.1. Bei dem Besuch solle es darum gehen, wie Deutsch­land der Ukrai­ne mit schwe­ren Waffen im Kampf gegen Russland helfen könne. «Darauf freut sich mein Präsi­dent», sagte Melnyk.

Zuvor hatte die ukrai­ni­sche Regie­rung einen Besuch Stein­mei­ers in der Haupt­stadt abgelehnt. «Ich war dazu bereit. Aber offen­bar — und ich muss zur Kennt­nis nehmen — war das in Kiew nicht gewünscht», sagte der Bundes­prä­si­dent am Diens­tag in Warschau. Geplant war ein gemein­sa­mer Solida­ri­täts­be­such mit den Staats­chefs Polens und der drei balti­schen Staaten Litau­en, Lettland und Estland.

Die vier Staats­chefs reisten schließ­lich allein in die Ukrai­ne. Sie befan­den sich am Mittwoch auf dem Weg zu einem Treffen mit Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj, wie der außen­po­li­ti­sche Sprecher von Polens Präsi­dent Andrzej Duda, Jakub Kumoch, der Agentur PAP sagte. «Unser Ziel ist es, Präsi­dent Selen­skyj und die Vertei­di­ger der Ukrai­ne in einem für das Land entschei­den­den Moment zu unter­stüt­zen.» Die balti­schen Staaten seien die wichtigs­ten Partner in Sicher­heits­fra­gen in der Region. Polen sei der Organi­sa­tor des Besuchs und stelle auch in der Ukrai­ne die Logis­tik und Sicher­heit zur Verfügung.

Kritik in Deutsch­land an Ausla­dung Steinmeiers

Die fakti­sche Ausla­dung Stein­mei­ers stößt in Deutsch­land auf Kritik. Der stell­ver­tre­ten­de FDP-Vorsit­zen­de Wolfgang Kubicki schließt eine Fahrt von Kanzler Scholz nach Kiew vorerst aus. «Ich kann mir nicht vorstel­len, dass der Kanzler einer von der FDP mitge­tra­ge­nen Regie­rung in ein Land reist, das das Staats­ober­haupt unseres Landes zur unerwünsch­ten Person erklärt», sagte Kubicki der Deutschen Presse-Agentur. Er habe jedes Verständ­nis für die politi­sche Führung der Ukrai­ne. Das Land kämpfe um sein Überle­ben. «Aber alles hat auch Grenzen. Ich glaube nicht, dass der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj gut beraten war, das Angebot eines solchen Besuchs nicht nur aus Deutsch­land zurückzuweisen.»

Der SPD-Außen­po­li­ti­ker Nils Schmid sagte im Deutsch­land­funk: «Kanzler gegen Bundes­prä­si­den­ten auszu­spie­len, das geht überhaupt nicht.» Er sehe keinen Grund, wieso Scholz «einfach so nach Kiew reisen» solle. Die Absage sei «mehr als ärger­lich». Die Entschei­dung Kiews stoße «bei vielen in Deutsch­land auf völli­ges Unverständnis».

Ukrai­ne vertei­digt Entscheidung

Der ukrai­ni­sche Präsi­den­ten­be­ra­ter Olexeij Aresto­wytsch bat um Verständ­nis für die Absage. Er kenne die Gründe nicht, doch die Politik und die Entschei­dun­gen von Selen­skyj seien sehr ausge­wo­gen, sagte er am Mittwoch im ARD-«Morgenmagazin» laut Überset­zung. «Unser Präsi­dent erwar­tet den Bundes­kanz­ler, damit er unmit­tel­bar prakti­sche Entschei­dun­gen treffen könnte auch inklu­si­ve die Liefe­rung der Waffen.» Das Schick­sal der Stadt Mariu­pol und anderer Orte hänge von der Liefe­rung deutscher Waffen ab. Jede Minute zähle. Das Argument, ukrai­ni­sche Solda­ten müssten erst an solchen Waffen ausge­bil­det werden, wies Aresto­wytsch zurück. Ukrai­ni­sche Solda­ten könnten sich den Umgang damit binnen drei Tagen selbst aneig­nen, meinte er.

Der frühe­re Box-Weltmeis­ter Wladi­mir Klitsch­ko bedau­er­te die Absage an Stein­mei­er und setzt auf eine späte­re Reise des Bundes­prä­si­den­ten. «Ich hoffe, dass der Besuch des Bundes­prä­si­den­ten in Kiew nur aufge­scho­ben ist und in den kommen­den Wochen nachge­holt werden kann», sagte der Bruder des Kiewer Bürger­meis­ters Vitali Klitsch­ko der «Bild»-Zeitung. «Ich halte es für dringend erfor­der­lich, dass wir als Ukrai­ne weiter­hin Brücken nach Deutsch­land bauen», beton­te Klitsch­ko. «Deutsch­land ist Partner Nummer eins bei der finan­zi­el­len Hilfe für die Ukrai­ne, leistet humani­tä­re Unter­stüt­zung, hilft massiv Flücht­lin­gen und schickt immer mehr Waffen, auch wenn wir davon mehr brauchen», fügte er hinzu.

Melnyk: Bundes­re­gie­rung sollte «Blocka­de­hal­tung» aufgeben

Die Ukrai­ne fordert schwe­re Waffen wie Kampf­pan­zer, Artil­le­rie­ge­schüt­ze und Luftab­wehr­sys­te­me von Deutsch­land. Viele andere Staaten inner­halb der Nato wie Tsche­chi­en hätten sich dafür schon entschie­den, beton­te Botschaf­ter Melnyk. «Deswe­gen hoffen wir, dass auch in der Ampel-Koali­ti­on die gleiche Entschei­dung bald fällt, und dass diese Blocka­de­hal­tung aufge­ge­ben wird.» Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) hat sich für die Liefe­rung schwe­rer Waffen ausge­spro­chen, Kanzler Scholz hat sich bisher zurück­hal­tend auf entspre­chen­de Fragen geäußert.

Vizekanz­ler Robert Habeck (Grüne) drückt bei den Waffen­lie­fe­run­gen aufs Tempo. «Es nützt nichts wenn wir sagen: In einem Dreivier­tel­jahr kriegt ihr irgend­was. Jetzt muss das Zeug da runter. Und so handeln wir auch», sagte der für Rüstungs­expor­te zustän­di­ge Wirtschafts­mi­nis­ter am Diens­tag­abend auf ProSie­ben und SAT.1. Er sagte aber nicht, was konkret gelie­fert werden soll.

Ampel-Parla­men­ta­ri­er in der Ukraine

Auch drei führen­de Parla­men­ta­ri­er der Ampel-Koali­ti­on, die am Diens­tag Lwiw in der Westukrai­ne besuch­ten, sprachen sich für weite­re Waffen­lie­fe­run­gen, einen schnellst­mög­li­chen Import­stopp für russi­sches Öl und eine klare EU-Perspek­ti­ve für die Ukrai­ne aus. «Im Bundes­tag dürfte es dafür breite Mehrhei­ten geben. Deutsch­land muss noch mehr Verant­wor­tung überneh­men», heißt es in einer gemein­sa­men Erklä­rung der Vorsit­zen­den der Bundes­tags­aus­schüs­se für Auswär­ti­ges, Vertei­di­gung und Europa, Micha­el Roth (SPD), Marie-Agnes Strack-Zimmer­mann (FDP) und Anton Hofrei­ter (Grüne).

Die Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­ten kriti­sier­ten aber die Ausla­dung Stein­mei­ers durch die Regie­rung in Kiew. Dieser Schritt sei nicht zu verste­hen. «Gerade jetzt ist es wichtig, im Gespräch zu bleiben.» Die drei Politi­ker hatten Gesprä­che mit Abgeord­ne­ten des ukrai­ni­schen Parla­ments Rada geführt. Es war der hochran­gigs­te deutsche Besuch in der Ukrai­ne seit Kriegs­be­ginn vor sieben Wochen.

CDU fordert Tempo — Skepti­sche Stimmen aus der SPD

Auch der CDU-Außen­po­li­ti­ker Roderich Kiese­wet­ter forder­te schnel­le Waffen­lie­fe­run­gen. «Den Vorschlag, die Liefe­rung zu beschleu­ni­gen, indem zunächst einsatz­fä­hi­ge Bundes­wehr­be­stän­de gelie­fert werden und anschlie­ßend in den kommen­den Monaten die Bundes­wehr­be­stän­de wieder aufzu­fül­len, halte ich für sinnvoll», sagte er dem Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land. «Konkret gibt es das Angebot aus der Indus­trie, kurzfris­tig Kampf­pan­zer des Typs Leopard 1 oder Schüt­zen­pan­zer Marder liefern zu können, auch in einem Rotati­ons­ver­fah­ren mit Bundeswehrbeständen.»

Aus der SPD kommen auch skepti­sche Stimmen. Der Bundes­tags­ab­ge­ord­ne­te Joe Weingar­ten, Mitglied im Vertei­di­gungs­aus­schuss, sagte der «Welt»: «Wir dürfen uns nicht schritt­wei­se in einen Krieg mit Russland treiben lassen. Wenn wir schwe­re Waffen liefern, stellt sich schnell die Frage, ob dann auch deutsche Ausbil­der nötig sind oder Freiwil­li­ge aus Deutsch­land, die die Syste­me bedie­nen.» SPD-Frakti­ons­vi­ze Detlef Müller sagte, die Liefe­rung schwe­rer Waffen sei «derzeit noch keine Option». Der SPD-Abgeord­ne­te Axel Schäfer sagte dem Bericht zufol­ge dagegen: «Jetzt muss alles getan werden, dass die Ukrai­ne diesen Krieg gewin­nen kann. Dazu gehört auch, dass Deutsch­land schwe­re Waffen liefert.» Er glaube nicht, dass dies an der SPD scheitere.