BIBERACH – Wird die 112 gerufen, sind Notfall­sa­ni­tä­ter als erstes vor Ort. Bislang durften diese eigen­ver­ant­wort­lich keine schmerz­lin­dern­den Medika­men­te verab­rei­chen oder einen Asthma­an­fall medika­men­tös behan­deln. Das hat sich zum 1. Juli geändert: Seitdem dürfen und sollen Retter im Südwes­ten auch ohne Rückspra­che mit einem Notarzt definier­te Krank­heits­bil­der vor Ort behan­deln. So setzt das Deutsche Rote Kreuz (DRK) Biber­ach diese neue Regelung, die so genann­te Vorab­de­le­ga­ti­on, um. 

Vorab­de­le­ga­ti­on bedeu­tet, dass der Arzt den Notfall­sa­ni­tä­tern im Voraus bestimm­te medizi­ni­sche Befug­nis­se erteilt, um heilkund­lich tätig zu werden. Dies ist bislang nur einem Arzt vorbe­hal­ten. „Es ist eine Freiga­be zur Behand­lung von definier­ten Krank­heits­bil­dern“, sagt Micha­el Mutsch­ler, der für den Rettungs­dienst beim DRK Biber­ach verant­wort­lich ist. „Wir befür­wor­ten das ganz klar, denn somit verkürzt sich das thera­pie­freie Inter­vall, den Patien­ten wird schnel­ler gehol­fen.“ Gerade im ländli­chen Raum, wo die Anfahrts­we­ge vergleichs­wei­se weit und Notärz­te ein rares Gut sind, sei die neue Regelung wichtig. 

Gleich­zei­tig bedeu­ten die neuen Befug­nis­se für die Notfall­sa­ni­tä­ter nicht, dass die Quali­tät des Rettungs­we­sens insge­samt sinkt – im Gegen­teil. „Notärz­te können sich so auf die wirklich lebens­be­droh­li­chen Notfäl­le konzen­trie­ren und sind dort schnel­ler vor Ort“, so Notarzt und Oberarzt der Anästhe­sie­ab­tei­lung im Biber­acher Sana Klini­kum, Ulf Schürch. Gleich­zei­tig ist es Pflicht, dass die durch die Notfall­sa­ni­tä­ter behan­del­ten Patien­ten im Anschluss in die Klinik gebracht werden oder im Nachgang von einem Notarzt unter­sucht werden. 

Ulf Schürch ist gemein­sam mit Notarzt Philipp Ganter, der ebenfalls als Oberarzt in der Anästhe­sie der Biber­acher Klinik tätig ist, jüngst vom DRK zum Ärztli­chen Verant­wort­li­chen im Rettungs­dienst berufen worden. Von ihren klini­schen Tätig­kei­ten sind Schürch und Ganter hierfür in einem definier­ten Umfang freige­stellt. Die Freistel­lung ist nötig – denn die beiden Ärzte werden gemein­sam mit dem Fachbe­reich Aus- und Fortbil­dung des DRK inter­ne Schulun­gen für die 110 Notfall­sa­ni­tä­ter im Rettungs­dienst durch­füh­ren. Inhal­te sind unter anderem verschie­de­ne Krank­heits­bil­der sowie die Vermitt­lung von Wirkun­gen und Neben­wir­kun­gen von Medika­men­ten, basie­rend auf dem Katalog mit Standard­pro­ze­du­ren. „Wenn wir die Verant­wor­tung delegie­ren, dann soll die Quali­tät hoch sein“, so Ganter. Schürch und Ganter werden deshalb nicht nur Einsatz­pro­to­kol­le stich­pro­ben­ar­tig kontrol­lie­ren, sondern auch in regel­mä­ßi­gen Abstän­den eine Erfolgs­kon­trol­le durch­füh­ren – ob diese in Form von Mitar­bei­ter­ge­sprä­chen oder kleinen Prüfun­gen erfol­gen soll, ist aller­dings noch unklar.

Dr. Ulrich Mohl, Ärztli­cher Direk­tor im Sana Klini­kum Landkreis Biber­ach, unter­stützt die neue Regelung: „Die hochqua­li­fi­zier­ten Rettungs­fach­kräf­te erhal­ten damit die beruf­li­che Anerken­nung, die sie verdie­nen und die Möglich­keit, das was sie können im Sinne einer hochwer­ti­gen und noch schnel­le­ren Patien­ten­ver­sor­gung auch tatsäch­lich in die Praxis umzuset­zen. Unsere Oberärz­te Ulf Schürch und Philipp Ganter nehmen in ihrer Funkti­on als Ärztli­che Verant­wort­li­che im Rettungs­dienst dabei eine wichti­ge und zentra­le Rolle ein. Hierfür bringen sie durch ihre langjäh­ri­ge Tätig­keit im Biber­acher Klini­kum sowie als Notärz­te im Rettungs­dienst die erfor­der­li­che Exper­ti­se mit. Uns als Klini­kum ist diese Entwick­lung wichtig, weshalb wir den beiden Kolle­gen auch den entspre­chen­den Raum ermög­li­chen und sie in einem bedarfs­ge­rech­ten Umfang von der Arbeit im Klini­kum freistellen.“ 

Die Vorab­de­le­ga­ti­on gilt bundes­weit, Baden-Württem­berg hat sich aller­dings mit vier weite­ren Bundes­län­dern auf Standard­ar­beits­an­wei­sun­gen und Behand­lungs­pfa­de verstän­digt. Die jetzt im Oktober mit der dreijäh­ri­gen Ausbil­dung starten­den Notfall­sa­ni­tä­ter lernen die neuen Handlungs­leit­fä­den bereits im schuli­schen Teil ihrer Ausbil­dung kennen und sollen diese dann auch sofort anwen­den. Bereits exami­nier­te Notfall­sa­ni­tä­ter müssen sich die neuen Standards inner­halb einer dreijäh­ri­gen Übergangs­frist aneig­nen. „Ab 2025 dürfen die Notfall­sa­ni­tä­ter nicht nur mehr, sie müssen dann auch handeln“, sagt Mutsch­ler. Mit der neuen Rechts­si­cher­heit im Einsatz gehe also auch eine Verpflich­tung einher.

Notfall­sa­ni­tä­ter und Praxis­an­lei­ter, Stefan Dangel, findet das gut: „Unsere Arbeit bisher kann man damit verglei­chen, wie wenn man einen Führer­schein hat, aber nicht fahren darf.“ Das bedeu­tet: Vieles, was bislang schon Teil der Ausbil­dung war, konnten er und seine Kolle­gen nicht anwen­den. „Deshalb freuen wir uns, dass unser Handlungs­spiel­raum erwei­tert wird.“

Info: In Baden-Württem­berg gibt es 3231 Notfall­sa­ni­tä­ter (Stand Ende 2021), die in 225 Rettungs­wa­chen­stand­or­ten arbei­ten. Insge­samt rückten sie 2021 791.063 Mal aus, 271.417 Mal wurde auch ein Notarzt mit verstän­digt. Der DRK-Kreis­ver­band Biber­ach beschäf­tigt in sieben Rettungs­wa­chen kreis­weit rund 250 Mitar­bei­ten­de. Gemein­sam mit dem Landkreis Biber­ach ist er Träger der Integrier­ten Leitstel­le in Biberach.