Drei Wochen Lockdown, dann Massen­tests: Damit will Öster­reichs Regie­rung vor Weihnach­ten die zweite Corona-Welle in den Griff bekom­men. Frust und Vorwür­fe beglei­ten die Debat­te darüber, ob die Maßnah­men richtig sind — und wie es überhaupt so weit kommen konnte.

Das Verlas­sen von Haus oder Wohnung ist wie bereits zu Beginn der Pande­mie im Frühjahr nur aus bestimm­ten Gründen erlaubt, darun­ter Grund­be­dürf­nis­se, Arbeit und ausdrück­lich auch Erholung im Freien — aber höchs­tens mit einzel­nen «engsten» Freun­den oder Verwandten.

«Meine eindring­li­che Bitte für die nächs­ten Wochen ist: Treffen Sie nieman­den! Jeder sozia­le Kontakt ist einer zu viel», sagte Bundes­kanz­ler Sebas­ti­an Kurz bei der Ankün­di­gung am Samstag.

Anschlie­ßend sollen Massen­tests «in gewis­sen Gruppen, zum Beispiel bei Lehre­rin­nen und Lehrern» nach Vorbild der millio­nen­fa­chen Tests in der Slowa­kei unerkann­ten Infek­tio­nen auf die Spur kommen, kündig­te Kurz zusätz­lich am Sonntag in einem ORF-Fernseh­in­ter­view an. Damit wolle man ein möglichst siche­res Weihnach­ten ermöglichen.

«Auch wenn sich niemand einen zweiten Lockdown wünscht, so ist der zweite Lockdown das einzi­ge Mittel, von dem wir verläss­lich wissen, dass es funktio­niert», sagte Kurz. «Je mehr Menschen sich daran halten, was hier vorge­ge­ben wird, desto kürzer wird dieser Zustand anhalten.»

Die Maßnah­men gelten ab Diens­tag und sollen am Nikolaus­tag am 6. Dezem­ber enden. Offen bleiben Geschäf­te des tägli­chen Bedarfs, etwa Super­märk­te, Droge­rien, Apothe­ken und Banken. Schulen und Kinder­gär­ten bieten Betreu­ung an. Arbeit­neh­mer sollen, wenn möglich, im Homeof­fice arbei­ten. Die Ausgangs­be­schrän­kun­gen müssen alle zehn Tage vom Haupt­aus­schuss des Parla­ments neu geneh­migt werden — eine nach dem ersten Lockdown im Frühjahr einge­führ­te recht­li­che Regelung.

Damals hatte die Regie­rung inmit­ten der eskalie­ren­den Situa­ti­on mit der noch neuen Pande­mie Schulen und Handel, Kultur und sogar Parks geschlos­sen. Vom 16. März bis Ende April war es verbo­ten, den öffent­li­chen Raum zu betre­ten — außer bei einem von vier Gründen. Spazie­ren­ge­hen war damals nicht klar geregelt. Das Verfas­sungs­ge­richt hob Teile der Verord­nung wegen unschar­fer Formu­lie­run­gen später auf. Eine deutli­che Eindäm­mung der Seuche wurde im April sicht­bar, monate­lang gab es nur noch wenige Dutzend Corona-Neuin­fek­tio­nen pro Tag. Seit Juli steigen die Zahlen jedoch wieder konstant.

Die Opposi­ti­on von Sozial­de­mo­kra­ten bis Rechts­po­pu­lis­ten warf der konser­va­tiv-grünen Regie­rung Komplett­ver­sa­gen und Kontroll­ver­lust in der Pande­mie vor. Die Regie­rung habe die Kontakt­nach­ver­fol­gung vernach­läs­sigt und die Länder und Kranken­häu­ser bei der Vorbe­rei­tung der Inten­siv­sta­tio­nen alleingelassen.

Vor einem Monat hatte Gesund­heits­mi­nis­ter Rudolf Anscho­ber (Grüne) einen Lockdown noch öffent­lich praktisch ausge­schlos­sen. «Ich kann mir das überhaupt nicht vorstel­len», sagte er am 11. Oktober dem Sender ORF. Das sei nur vor einem flächen­de­cken­den Zusam­men­bruch des Gesund­heits­sys­tems möglich. «Davon sind wir Gott sei Dank meilen­weit entfernt», sagte er damals.

Keine zwei Wochen später schos­sen die Infek­ti­ons­zah­len in die Höhe — von knapp 1000 positi­ven Tests am Tag Mitte Oktober auf mehr als 8000 Mitte Novem­ber. Am 3. Novem­ber schloss Öster­reich Touris­mus und Gastro­no­mie, Kultur­be­trie­be und Freizeit­ein­rich­tun­gen. Ausgangs­be­schrän­kun­gen von 20 bis 6 Uhr sollten als fakti­sches Besuchs­ver­bot wirken, um Anste­ckun­gen bei Privat­tref­fen vorzubeugen.

Die Infek­ti­ons­zah­len stiegen in der ersten Novem­ber­hälf­te aber zunächst weiter. Behör­den können laut Kurz mittler­wei­le 77 Prozent der Neuan­ste­ckun­gen nicht zurück­ver­fol­gen. Am Freitag lag die Zahl der Neuin­fek­tio­nen pro 100 000 Einwoh­ner binnen 7 Tagen bei 554,2, in einzel­nen Regio­nen gar bis zu 850. Die tägli­che Anste­ckungs­zah­len ließen erst am Wochen­en­de im Vergleich zur Vorwo­che eine mögli­che leich­te Entspan­nung erahnen.

Gesund­heits­mi­nis­ter Rudolf Anscho­ber (Grüne) sagte, aktuell stecke jeder Corona-Infizier­te statis­tisch 1,2 andere Menschen an. Diese Repro­duk­ti­ons­zahl müsse unter 0,9 sinken — dann würden 10 Erkrank­te rechne­risch höchs­tens 9 Menschen anste­cken. Das Gesund­heits­sys­tem komme in vielen Berei­chen an seine Grenzen. «Wir brauchen deshalb eine Notbrem­sung und das wirklich sofort», sagte Anscho­ber. Der Brems­weg — bis zu einer echten Senkung der Zahlen — betra­ge zwei Wochen.

Dass die Kranken­häu­se­rin den Abgrund blicken, verdeut­lich­te am Samstag eine Warnung des obers­ten Inten­siv­me­di­zi­ners des Landes. «Wenn das Ganze in den nächs­ten Tagen in dieser Geschwin­dig­keit zuneh­men sollte, kommen wir in die Situa­ti­on einer Triage», sagte der Präsi­dent der Gesell­schaft für Anästhe­sie, Reani­ma­ti­on und Inten­siv­me­di­zin, Klaus Markstal­ler. Ärzte müssten dann auswäh­len, welche Patien­ten inten­siv­me­di­zi­nisch behan­delt werden können.

Ein großer Streit­punkt bleibt das Schlie­ßen der Schulen. Die Opposi­ti­ons­par­tei­en sind entschie­den dagegen, auch die Corona-Exper­ten­kom­mis­si­on der Bundes­re­gie­rung hatte sich wenige Tage vor dem Lockdown großteils dagegen ausge­spro­chen. Die Grünen betonen, dass die Schulen nicht geschlos­sen seien — Betreu­ung werde angebo­ten, nur der Unter­richt finde aus der Ferne statt. Eltern stellt das vor ein Dilem­ma, denn nach aktuel­lem Stand entfällt damit die gesetz­li­che Entschä­di­gung für Firmen, deren Arbeit­neh­mer zur — vom Bildungs­mi­nis­te­ri­um empfoh­le­nen — Betreu­ung der Kinder zuhau­se bleiben müssten.

Umstrit­ten bleibt, inwie­weit Kinder zum Infek­ti­ons­ge­sche­hen beitra­gen. «Offene Schulen waren unser Ziel, weil wir vom Wert der Bildung und der sozia­len Funkti­on der Schulen überzeugt sind», sagte Bildungs­mi­nis­ter Heinz Faßmann (ÖVP) am Samstag. Die Lage sei aber prekär und die Gesund­heit habe Priori­tät. «Die Schulen sind keine Treiber der Infek­tio­nen, aber sie sind auch nicht frei von Infek­tio­nen.» Schulen und Lehrer seien besser auf die Schlie­ßun­gen vorbe­rei­tet als im Frühjahr.