CANAZEI (dpa) — Nach dem fatalen Gletscher­bruch geht in den Dolomi­ten die Suche nach weite­ren Toten unter erschwer­ten Bedin­gun­gen weiter. Ein siebtes Opfer wurde entdeckt.

Eine gespens­ti­sche Stille legt sich über die Marmo­la­ta. Am Tag nach der Gletscher­ka­ta­stro­phe mit mindes­tens sieben Toten und vielen Vermiss­ten fliegen nur noch verein­zelt Heliko­pter an die Flanke des mächti­gen Dolomitenmassivs.

Ein nahen­des Gewit­ter verdun­kelt den Himmel, die letzten Suchtrupps mit ihren Drohnen ziehen vorerst ab. Die Gefahr weite­rer Gletscher- oder Felsstür­ze ist zu groß. Es donnert. Regen geht nieder auf den Unglücks­berg in Nordita­li­en und den Lawinen­ke­gel aus Eis, Schnee und Steinen, unter dem mehr als ein Dutzend Tote befürch­tet werden.

Auch zwei Deutsche wurden am Sonntag von der Lawine erwischt, die nach dem Gletscher­bruch auf gut 3000 Metern Meeres­hö­he ins Tal donner­te. Das sagte eine Spreche­rin des Auswär­ti­gen Amtes der Deutschen Presse-Agentur. Die zwei sind verletzt und werden in einem Kranken­haus von Bellu­no, südöst­lich des Unglücks­or­tes, behan­delt, wie die dorti­ge Klinik mitteil­te. Demnach handelt es sich um einen 67-jähri­gen Mann und eine 58-jähri­ge Frau. Beide würden eng überwacht. Am Nachmit­tag wurden offizi­ell noch 14 Bergsport­ler vermisst. Sieben Tote wurden gebor­gen; neben den zwei Deutschen wurden sechs weite­re verletzt.

Draghi: Itali­en «weint um die Opfer»

Auf dem Parkplatz unter­halb der Marmo­la­ta stand am Montag ein Camper mit bayeri­schem Kennzei­chen, nach Angaben von Polizis­ten war der Wagen bereits am Sonntag dort geparkt und wurde nicht wegge­fah­ren. Der Parkschein hinter der Windschutz­schei­be lief um 9.30 Uhr ab. Ob es sich um das Auto der verletz­ten Deutschen handel­te, war unklar.

«Heute weint Itali­en um die Opfer», sagte ein sicht­lich emotio­na­ler Minis­ter­prä­si­dent Mario Draghi bei einem Besuch in Canazei am Fuße der Marmo­la­ta. Er dankte außer­dem den Einsatz­kräf­ten und drück­te den Famili­en der Toten, Vermiss­ten und Verletz­ten seine Anteil­nah­me aus. Der Regie­rungs­chef traf vor Ort auch Angehö­ri­ge der Opfer. Ein Besuch vor Ort sei sehr wichtig gewesen, unter­strich Draghi.

Einsatz­kräf­te befürch­ten weite­re Gletscherbrüche

Die Such- und Rettungs­ar­bei­ten am mehr als 3340 Meter hohen Berg auf der Grenze der Regio­nen Trenti­no-Südti­rol und Veneti­en mussten wegen des schlech­ten Wetters unter­bro­chen werden. Ohnehin schick­ten die Einsatz­kräf­te keine Leute mehr direkt auf den Lawinen­ke­gel, weil sie befürch­te­ten, dass weite­re Gletscher­stü­cke wegbre­chen könnten. Ein Brocken von 200 Metern Breite, 60 Metern Höhe und 80 Metern Tiefe hänge gefähr­lich über dem Abhang, teilte der Zivil­schutz mit.

Bevor sie wegen des Schlecht­wet­ters vom Gletscher abgezo­gen wurden, lokali­sier­ten die Drohnen am Vormit­tag Leichen­tei­le und Materi­al wie Seile und Rucksä­cke, sagte Alex Barat­tin von der Bergret­tung Belluno.

Praktisch keine Chance mehr, Überle­ben­de zu finden

Es gebe aber praktisch keine Chance mehr, noch Überle­ben­de unter den Eis- und Geröll­mas­sen zu finden. Vielmehr dürfte nach Einschät­zung der Bergungs­teams die Identi­fi­zie­rung der Leichen schwie­rig werden in Anbetracht der Kräfte, mit der die Lawine die Leute erwischt hatte.

Womög­lich dauert es Wochen oder noch länger, bis alle Toten gefun­den und gebor­gen werden. Das sagte Mauri­zio Dellan­to­nio, der Präsi­dent der italie­ni­schen Bergret­tung. Er erklär­te, dass riesi­ge Mengen an Eis und Gestein in Fels- und Gletscher­spal­ten gerutscht seien. Die Felsspal­ten sollten zwar noch im Sommer freige­legt werden, auch dank des bei den warmen Tempe­ra­tu­ren schmel­zen­den Eises, wie er hoffte.

«Falls aber jemand im oberen Bereich des Berges in Gletscher­spal­ten gestürzt ist, dann wird es schwie­rig», sagte Dellan­to­nio. «Es ist aktuell nicht möglich, zu graben, weil die Masse an Eis sich schon so festge­setzt hat und hart gewor­den ist. Das ginge nur mit mecha­ni­schem Gerät, aber das können wir nicht hoch bringen.» Das Eis sei teilwei­se bis zu zehn Meter dick, sagte der Bergret­ter. Deshalb sei die Lokali­sie­rung und Bergung der Leichen so schwierig.

Unglück auch auf steigen­de Tempe­ra­tu­ren zurückzuführen

Staats­chef Sergio Mattar­el­la und andere Politi­ker drück­ten den Opfern und Hinter­blie­be­nen ihre Anteil­nah­me aus und dankten den Helfern. Papst Franzis­kus betete für die Toten und Verletz­ten. «Die Tragö­di­en, die wir gerade mit dem Klima­wan­del erleben, müssen uns dazu drängen, dringend neue menschen- und natur­be­wuss­te Wege zu finden», forder­te das 85 Jahre alte Oberhaupt der katho­li­schen Kirche bei Twitter.

Nach Einschät­zung von Klima­ex­per­ten und Gletscher­for­schern ist das Unglück auch auf die steigen­den Tempe­ra­tu­ren zurück­zu­füh­ren. Diese lassen die Gletscher immer weiter schmel­zen und bröckeln; wegen des gerin­gen Nieder­schlags in diesem Winter fehlte Schnee, der den Gletscher zusätz­lich vor der Sonne hätte schüt­zen können.

Auch der Extrem­berg­stei­ger Reinhold Messner hat eine Erklä­rung für das Unglück und war nicht überrascht. «Der Haupt­grund ist die Erder­wär­mung und der Klima­wan­del. Diese fressen die Gletscher weg», sagte der 77-Jähri­ge der dpa. Just an den Abbruch­kan­ten bilden sich dann sogenann­te Eistür­me — Séracs genannt — «die so groß sein können wie Wolken­krat­zer oder Häuser­zei­len», erklär­te Messner.

Messner mahnt: Touren nur mit Bergfüh­rer machen

Der Südti­ro­ler, der als erster Alpinist alle 14 Achttau­sen­der der Welt bestie­gen hatte, kennt Séracs etwa aus dem Himala­ya. Er mahnt, Touren auf Eis nur mit Bergfüh­rer zu machen. Doch selbst das ist keine Sicher­heits­ga­ran­tie; nach Medien­be­rich­ten gehören auch Bergfüh­rer zu den Vermiss­ten nach der Dolomiten-Katastrophe.

Vorfäl­le wie an der Marmo­la­ta «werden wir häufi­ger sehen», meinte Messner. «Heute gibt es viel mehr Fels- und Eisab­brü­che als früher.» Minis­ter­prä­si­dent Draghi sieht Handlungs­be­darf: «Die Regie­rung muss darüber nachden­ken, was passiert ist und Maßnah­men ergreifen.»

«Die globa­le Erwär­mung kommt aus den Ballungs­zen­tren und Städten, von den Autobah­nen und Fabri­ken», sagte Messner. «Aber wir in den Bergen merken sie, schon seit 30 Jahren sehen wir mit bloßem Auge, wie die Gletscher schmel­zen. Dazu muss man kein Wissen­schaft­ler sein.»

Von Manuel Schwarz und Johan­nes Neude­cker, dpa