SYLT (dpa) — Höher, schnel­ler, weiter — und dann eine Vollbrem­sung. Auf Sylt hieß die Devise lange Zeit, Wachsen um jeden Preis. Die Corona-Pande­mie hat nun etwas an die Oberflä­che gebracht, was schon lange gärte.

Noch ist es auf Sylt ruhig. Reisen auf eine der Lieblings­in­seln der Deutschen sind bis auf Ausnah­men seit Monaten nicht möglich. Nach dem Beher­ber­gungs­ver­bot im Frühjahr 2020 und dem Gäste­an­sturm danach im Sommer musste der Betrieb Anfang Novem­ber erneut herun­ter­ge­fah­ren werden.

Am 1. Mai fährt Sylt nun als Teil der Modell­re­gi­on Nordfries­land den Touris­mus langsam und mit stren­gen Aufla­gen wieder hoch. Die Teilnah­me ist auf der Insel durch­aus umstrit­ten und bringt erneut einen Konflikt an die Oberflä­che, der schon lange auf der Insel gärte und im vergan­ge­nen Jahr nach dem Hochfah­ren des Touris­mus von Null auf Hundert im Sommer hochkoch­te. Die Corona-Krise habe das Leben auf der Insel nachhal­tig verän­dert und den Ruf nach einer neuen Quali­tät des Touris­mus verstärkt, schreibt der Chef der Sylt Marke­ting, Moritz Lust, in der Publi­ka­ti­on «Kurs Sylt». Das sei Fakt. Der Versuch einer Bestandsaufnahme:

DIE INSEL: Ist 99 Quadrat­me­ter groß und zu einem Drittel mit Dünen bedeckt. Zehn Natur­schutz­ge­bie­te vertei­len sich auf rund 50 Prozent der Insel­flä­che. Zwölf Orte gibt es auf Sylt: Die amtsan­ge­hö­ri­gen Gemein­den Kampen, List, Hörnum und Wenning­stedt-Brade­r­up sowie die Gemein­de Sylt, zu der die Orte Wester­land, Tinnum, Keitum, Archsum, Morsum, Rantum und Munkmarsch gehören. Knapp 20 000 Menschen leben auf der Insel. Tausen­de pendeln zudem täglich zum Arbei­ten vom Festland nach Sylt. Viele, weil Wohnraum auf der Insel teuer ist.

TOURISMUS: Vom Luxus­ho­tel bis hin zu Camping­platz und Jugend­her­ber­ge, vom Sterne­re­stau­rant bis zur Fisch­bröt­chen­bu­de, ob Natur­lieb­ha­ber, Surfer, Gourmet oder Golfer, auf Sylt ist für jeden etwas dabei. Die Zahl der Gäste hat sich in den vergan­ge­nen 30 Jahren fast verdop­pelt: von knapp 522 000 im Jahr 1990 auf etwa 961 000 im Jahr 2019. Zugleich ist die durch­schnitt­li­che Aufent­halts­dau­er von 10,3 auf 7,45 Übernach­tun­gen gesun­ken, wie Statis­ti­ken der Gemein­den zeigen.

«Das führt zu einer Unaus­ge­wo­gen­heit des Verhält­nis­ses zwischen Einhei­mi­schen und Gästen sowie auch Zweit­woh­nungs­be­sit­zern», findet die Keitu­mer Goldschmie­din Birte Wieda, die gemein­sam mit Mitstrei­tern im vergan­ge­nen Jahr das Bürger­netz­werk «Merret reicht’s — aus Liebe zu Sylt» gegrün­det hat. «Dieses Entfrem­dungs­pro­blem wird umso größer, je mehr man feststellt, dass nicht mehr die Einhei­mi­schen die Beher­ber­gungs­be­trie­be neu bauen und leiten, sondern Fremde — zuneh­mend gar unper­sön­li­che Invest­ment­fonds. Die Sylter selbst profi­tie­ren schon lange nicht mehr vom Overtou­rism», sagt Wieda. Vielmehr machten sich große und kleine Immobi­li­en­in­ves­to­ren von überall­her die Wertschöp­fung auf der Insel zunut­ze: «Das Kapital wird hier aufge­baut und abgeschöpft.»

Der Vorsit­zen­de des Vereins Sylter Unter­neh­mer, Karl Max Hellner, beton­te hinge­gen, die meisten Sylter lebten haupt­säch­lich vom Touris­mus. «Wir brauchen die Ferien- und Tages­gäs­te für unsere Wirtschaft, ohne sie kann die Insel nicht überle­ben.» Die Frage sei aber, «ob sich die Masse an Menschen im Hochsom­mer noch mit unseren eigenen Vorstel­lun­gen von Lebens­ge­fühl, dem Umgang mitein­an­der und dem neuen Freiheits- und Ökolo­gie­ge­dan­ken verbin­den lässt». Es sei schade, dass inzwi­schen mehr auf Quanti­tät als auf Quali­tät gesetzt werde. Gerade im vergan­ge­nen Jahr habe sich das extrem bemerk­bar gemacht, als jede noch so kleins­te Buchungs­lü­cke gefüllt worden sei.

BAUBOOM: Die Beliebt­heit der Insel bei Touris­ten hat zu einem Bauboom und einer Explo­si­on der Immobi­li­en­prei­se geführt. Millio­nen Euro teure (Reetdach-)Ferienhäuser, exklu­si­ve Ferien­ap­par­te­ments und riesi­ge Luxus­ho­tels entstan­den und entste­hen noch immer in vielen Insel­or­ten. Was seit Jahrzehn­ten fehlt, ist bezahl­ba­rer Wohnraum für Einhei­mi­sche. «Der Bauboom auf Sylt ist ungebro­chen, hat aber Wohnungs­not­stand zum Ergeb­nis — das scheint absurd», sagt Wieda von «Merret reicht’s». «Wir würden heute sagen, dass die uns leiten­de Ökono­mie die Bau- und Invest­ment­bran­che ist.» Noch immer werde zu viel Dauer­wohn­raum in Zweit- und Ferien­woh­nun­gen umgewandelt.

Und auch wenn die Anstren­gun­gen für den Bau von kommu­na­len Wohnun­gen für Einhei­mi­sche in der letzten Zeit zugenom­men haben, fallen jedes Jahr schät­zungs­wei­se 100 Wohnun­gen durch die Umwand­lung in Ferien­im­mo­bi­li­en weg. Der Bürger­meis­ter der Gemein­de Sylt, Nikolas Häckel, sagte im Dezem­ber 2020 der «Sylter Rundschau» mit Verweis auf eine Studie, die Fertig­stel­lung kommu­na­ler Dauer­woh­nun­gen reiche ledig­lich aus, um die durch Umwand­lung in Ferien- oder Zweit­woh­nun­gen verlo­re­ne Zahl der Dauer­woh­nun­gen annähernd zu kompensieren.

VERKEHR: Gerade an den tradi­tio­nel­len An- und Abrei­se­ta­gen gehören die Meldun­gen über stunden­lan­ge Warte­zei­ten an den Autover­la­de­sta­tio­nen in Niebüll und Wester­land zu den Klassi­kern im Verkehrs­funk. Entzerr­te Anrei­se­ta­ge könnten die Situa­ti­on schon entlas­ten. Eine echte Lösung bringen nach Meinung vieler auf der Insel vor allem weniger Autos, dafür mehr Angebo­te im öffent­li­chen Perso­nen­nah­ver­kehr und eine verbes­ser­te Fahrradinfrastruktur.

DIE ZUKUNFT: Der Unter­neh­mer Hellner glaubt fest daran, «dass wir das hinbe­kom­men und im Laufe der Zeit wieder besser mit den Ressour­cen der Insel und dem Touris­mus umgehen werden». Es werde schwer werden, das Rad umzudre­hen oder für Sylt neu zu definie­ren, aber nicht unmög­lich. Nachhal­ti­ger Touris­mus, Resonanz­tou­ris­mus, Entschleu­ni­gung, Dauer­wohn­raum, Verkehrs­kon­zep­te wie zum Beispiel die Auswei­tung des Fahrrad­we­ge­net­zes und die Bebau­ung von Grund­stü­cken seien wichti­ge Themen. Und auch Wieda findet, «Nachhal­tig­keit ist für Leben und Touris­mus auf der Insel obers­tes Gebot». 

Von Birgit­ta von Gylden­feldt, dpa