Seit Tagen protes­tie­ren Menschen in Polen gegen eine Verschär­fung des Abtrei­bungs­rechts. Heute blieben viele ihrer Arbeit fern. Die natio­nal­kon­ser­va­ti­ve PiS-Regie­rung hat die Stimmung im Land falsch einge­schätzt — und bemüht nun Verschwörungstheorien.

Viele Frauen, aber auch Männer in ganz Polen taten es ihr am Mittwoch gleich. Aus Protest gegen eine Verschär­fung des Abtrei­bungs­rechts blieben sie der Arbeit fern — häufig mit Billi­gung ihrer Vorge­setz­ten in Behör­den, Univer­si­tä­ten und priva­ten Unternehmen.

Zu der Aktion mit dem Motto «Wir gehen nicht zur Arbeit» hatte die Organi­sa­ti­on Allpol­ni­scher Frauen­streik aufge­ru­fen. Sie spricht vollmun­dig von einem «General­streik». Wie viele Arbeit­neh­mer genau mitmach­ten, lässt sich zwar nicht überprü­fen. Nur soviel steht fest: Viele Polen sind wütend. Seit Tagen gehen sie auf die Straße.

Auslö­ser für die Protes­te ist eine umstrit­te­ne Entschei­dung des Verfas­sungs­ge­richts. In der vergan­ge­nen Woche entschie­den die Richter, dass Frauen auch dann nicht abtrei­ben dürfen, wenn ihr Kind schwe­re Fehlbil­dun­gen hat. Ein entspre­chen­der Passus im bishe­ri­gen Abtrei­bungs­recht sei verfas­sungs­wid­rig. Dies kommt de facto einem Abtrei­bungs­ver­bot gleich. Denn ohnehin gehört das polni­sche Abtrei­bungs­recht schon zu den strengs­ten in Europa.

Derzeit ist ein Abbruch in Polen legal, wenn die Schwan­ger­schaft das Leben oder die Gesund­heit der Mutter gefähr­det, Ergeb­nis einer Verge­wal­ti­gung ist oder wenn das Ungebo­re­ne schwe­re Fehlbil­dun­gen aufweist. Letzte­res ist bislang der häufigs­te Grund für eine Abtrei­bung, wie die Statis­tik des Gesund­heits­mi­nis­te­ri­ums zeigt. So wurden von den 1110 Abtrei­bun­gen, die 2019 in polni­schen Klini­ken vorge­nom­men wurden, 1074 mit Fehlbil­dun­gen des ungebo­re­nen Kindes begrün­det. Künftig soll dies nicht mehr möglich sein.

Die Entschei­dung ist nicht so sehr eine verfas­sungs­recht­li­che wie eine politi­sche. Polens natio­nal­kon­ser­va­ti­ve Regie­rungs­par­tei PiS hat das Verfas­sungs­ge­richt längst mit den eigenen Leuten besetzt. PiS-Politi­ker dringen seit Jahren darauf, Abtrei­bun­gen zu verbie­ten. Kommen­ta­to­ren in polni­schen Medien werfen der Partei­füh­rung vor, sich hinter der Entschei­dung der Verfas­sungs­rich­ter zu verstecken.

Umso mehr trifft die Wut der Demons­tran­ten die PiS — und die katho­li­sche Kirche, die auch in Polen durch Missbrauchs­skan­da­le an Autori­tät einge­büßt hat. Landes­weit werden Kirchen beschmiert, Gottes­diens­te gestört und Geist­li­che beschimpft. Die PiS ist zum Ziel vulgä­rer Verbal­at­ta­cken gewor­den. Auf den Plaka­ten der Demons­tran­ten zählt das inter­na­tio­nal verständ­li­che «PiS off!» noch zu den milden Varian­ten. Andere Losun­gen bieten Gelegen­heit, sich mit den derbs­ten polni­schen Schimpf­wör­tern bekannt zu machen.

Offen­bar hatten die PiS und ihr mächti­ger Vorsit­zen­der Jaros­law Kaczyn­ski die Stimmung im Land völlig falsch einge­schätzt. Eine aktuel­le Umfra­ge des Meinungs­for­schungs­in­sti­tuts Kantar zeigt: 62 Prozent der Polen finden, dass eine Abtrei­bung unter bestimm­ten Bedin­gun­gen legal sein sollte; 22 Prozent sind dafür, einen Schwan­ger­schafts­ab­bruch auf Wunsch bis zur 12. Woche zu ermög­li­chen. Nur 11 Prozent der Befrag­ten befür­wor­ten ein Abtreibungsverbot.

Von den Protes­ten in die Ecke getrie­ben, bemüht Kaczyn­ski alte Feind­bil­der und Verschwö­rungs­theo­rien. Der 71-jähri­ge Vize-Regie­rungs­chef rief die PiS-Anhän­ger auf, «um jeden Preis» die Kirchen zu schüt­zen. Diese würden nicht zufäl­lig angegrif­fen. Vielmehr könne man bei den Attacken eine Vorbe­rei­tung und sogar Schulung erken­nen. «Diese Attacke soll Polen vernich­ten. Sie soll zum Triumph von Kräften führen, deren Herrschaft die Geschich­te des polni­schen Volkes, so wie wir es kennen, beenden soll.»

Während sich die politi­sche Stimmung aufheizt, hat die Corona-Pande­mie Polen weiter fest im Griff. Die Anzahl der gemel­de­ten Neuin­fek­tio­nen eines Tages erreich­te heute den Rekord­wert von mehr als 18.000 Fällen. Die PiS-Regie­rung könnte bald den Ausnah­me­zu­stand verhän­gen, warnt Polens Menschen­rechts­be­auf­trag­ter Adam Bodnar. «Ich befürch­te, dass die Situa­ti­on ausge­nutzt wird, um unsere Bürger­rech­te und ‑freihei­ten ernst­haft einzu­schrän­ken», sagte Bodnar dem Portal «Bezpraw­nik». Unter anderem könnte dann auch die Versamm­lungs­frei­heit ausge­setzt werden. Für die Straßen­pro­tes­te wäre das das Ende.