LEUTKIRCH — Es hat nicht sollen sein. Just am Montag, 2. Novem­ber, als Manfred Thierer bei den Baden-Württem­ber­gi­schen Litera­tur­ta­gen sein neues Buch „Beseel­tes Land“ vorstel­len wollte, fiel in der Kultur wieder der Vorhang. Immer­hin liegt der großfor­ma­ti­ge Band über die „Zeichen der Frömmig­keit im westli­chen Allgäu“ nun in den Buchhand­lun­gen. Und die Corona-Epide­mie mag in vielem trost­los sein, aber einen Neben­ef­fekt hat sie: Es bleibt mehr Zeit zum Lesen. Wer auf souve­rän präsen­tier­te Kultur­his­to­rie steht, sollte sich unbedingt Thierers üppig bebil­der­te Bestands­auf­nah­me der Glaubens­welt in unserem Landstrich zu Gemüte führen.

Zum Hinter­grund des Buches: 2004 starte­te die „Arbeits­ge­mein­schaft Heimat­pfle­ge im württem­ber­gi­schen Allgäu“ ein sehr verdienst­vol­les Projekt zur „Erfas­sung des Natur- und Kultur­er­bes“. Im Blick­feld: Objek­te in elf Katego­rien auf dem Gebiet, das in etwa dem ehema­li­gen Altkreis Wangen entspricht – von Natur­be­schaf­fen­heit über Wasser­nut­zung, Sakral­kul­tur und Gewer­be bis zum Verkehr. Inter­dis­zi­pli­när aufge­zo­gen, betreut von Spezia­lis­ten sowie von ehren­amt­li­chen Ortshei­mat­pfle­gern nahm es schnell an Fahrt auf. 2012 lagen bereits 7000 Daten­blät­ter vor. Seither wird – geför­dert mit LEADER-Geldern der EU – bei der Inven­ta­ri­sie­rung und Karto­gra­phie­rung verstärkt aller­neu­es­te Digital­tech­nik einge­setzt, für die das Ingenieur­bü­ro Fassnacht in Arnach verant­wort­lich zeichnet.

Publi­ka­tio­nen sollen die Bilanz dokumen­tie­ren und die Bevöl­ke­rung für die Bewah­rung der vieler­orts gefähr­de­ten Hinter­las­sen­schaft unserer Altvor­de­ren sensi­bi­li­sie­ren. Manfred Thierer hat nun mit seinem Band über die religiö­sen Objek­te den ersten Schritt getan. Den Autor, früher Profes­sor für Geogra­fie am Seminar für Lehrer­bil­dung in Weingar­ten und bis heute hochmo­ti­vier­ter Heimat­pfle­ger sowie versier­ter Verfas­ser zahlrei­cher landes­kund­li­cher Schrif­ten und Bücher, muss man hier nicht mehr groß vorstel­len. Auch bei diesem Band bleibt er sich treu. Er greift zum einen auf seinen enormen Fundus zurück und erledigt den Rest mit Bienen­fleiß und Akribie. Mit der Kamera im Anschlag fährt er die Denkma­le ab, redet mit den Leuten, recher­chiert Hinter­grün­de, setzt das alles in flüssi­ge Texte um – und serviert schließ­lich ein überaus buntes Kaleidoskop.

Wenn eines in dieser Südost­ecke des Oberlan­des sofort auffällt, so ist es die starke Prägung durch den Glauben. Da eine statt­li­che Kirche, dort eine kleine Kapel­le, Feldkreu­ze und Bildstö­cke allüber­all auf den Fluren, markan­te Pfarr­häu­ser und versteck­te Lourdes­grot­ten, ein Heili­ger an der Brücke, ein Schutz­pa­tron am Bauern­haus… Über 1700 Glaubens­zeug­nis­se hat die Heimat­pfle­ge erfasst. Nun kommt dieser Reich­tum an sakra­len Denkma­len nicht von ungefähr. Thierer zieht die Linien von der Chris­tia­ni­sie­rung durch irische Mönche im 7. Jahrhun­dert über das Mittel­al­ter, die Wirren der Refor­ma­ti­ons­zeit, den starken Einfluss des gegen­re­for­ma­to­ri­schen Barock und den erneu­ten Frömmig­keits­schub im 19. Jahrhun­dert bis in unsere Zeit.  Zwar nimmt heute die Glaubens­fer­ne zu, aber die Verwur­ze­lung im Religiö­sen ist in dieser Gegend immer noch wirkmäch­ti­ger als anders­wo, wie etwa der 2000 errich­te­te Bau der über die Konfes­sio­nen hinweg hochge­schätz­ten Gallus­ka­pel­le an der A 96 bei Leutkirch beweist.

Bei Thierers Parade der großen und kleinen Denkma­le ist dann die detail­rei­che Beschrei­bung von Entste­hung, Bauwei­se, religiö­ser oder kultur­ge­schicht­li­cher Bedeu­tung das eine, aber er packt auch noch die passen­den Geschich­ten dazu, Legen­den, Anekdo­ten… Das sorgt über die kundi­ge Infor­ma­ti­on hinaus für kurzwei­li­ge Lektü­re, flankiert noch von einer abwechs­lungs­rei­chen Bebil­de­rung – bis zu neun Fotos auf einer Seite, aber auch stimmungs­vol­le Aufnah­men über zwei Seiten hinweg.

Hier nur zwei der vielen frappan­ten Kurzge­schich­ten, sehr tragisch mitun­ter: In Siggen-Weiher­haas steht eines der rund 1100 Feldkreu­ze im Erhebungs­ge­biet: Gesetzt wurde es von einer Bauern­fa­mi­lie 1914 mit der Bitte um eine glück­li­che Heimkehr der drei Söhne aus dem Krieg. Zurück kam keiner. In Hauerz-Steinen­tal wieder­um wurde 1945 just an jener Stelle ein Kreuz errich­tet, an der die Nazis eine Hitle­rei­che gepflanzt hatten.

Ein Kapitel beschreibt die Arma-Christ-Kreuzen mit ihrer akribi­schen Darstel­lung der Leidens­werk­zeu­ge. Typisch für diese Region, gelten sie bis heute als beson­de­re Zeugen der Volks­fröm­mig­keit – und es kommen sogar noch neue hinzu. Ein anderes Schlag­licht fällt auf die verwit­ter­ten Sühne­kreu­ze, die meist von Mord und Totschlag vor Jahrhun­der­ten zeugen. Die vielen Bildstö­cke aus Holz und Stein werden abgehan­delt, wobei auch hier anrüh­ren­de Geschich­ten anfal­len: Im Wald bei Engelitz wird eines kleinen Mädchens gedacht, das dort 1936 einem Sexual­de­likt zum Opfer fiel. Bei Eintür­nen hat ein Bauer einen Bildstock gestif­tet, weil er dort gerade noch einer Bande von Räubern entkam.

Thierer streift die Kreuz­we­ge, Statu­en auf Brunnen oder Säulen und geht näher auf Heili­ge ein, die hier seit jeher hoch im Kurs standen. Er schaut sich rund um die Kirchen die Pfarr- und Mesner­häu­ser an und wirft einen Seiten­blick auf Wallfahrts­or­te und Klöster. Als Kenner der regio­na­len Sakral­kunst bietet Thierer auch auf diesem Feld Infos zuhauf: Verewigt sind der frühba­ro­cke Bildhau­er Hans Zürn in einem Bildstock in Wangen, der spätba­ro­cke Kolle­ge Konrad Hegenau­er in einer Kapel­le in Schmids­fel­den, und im Weiler Willatz überrascht ein neuerer Bildstock mit Beuro­ner Kunst. Moder­ne Akzen­te setzen Siegfried Haas mit seinem Nepomuk bei Dürren oder Bonifa­ti­us Stirn­kopf mit seinen Allgäu­hei­li­gen vor der Galluskapelle.

Nicht zuletzt richtet der Autor sein Augen­merk auf die Kapel­len der Region. Fast 200 gibt es im westli­chen Allgäu, Orte des Rückzugs und des stillen Gebets für die fromme Bevöl­ke­rung – bis heute. Hier sei noch angemerkt, dass auch für Manfred Thierer geleb­ter Glaube noch eine feste Größe ist. Und so fehlt bei ihm – mögen manche der Bräuche uns auch aus der Zeit gefal­len erschei­nen – jeder Anflug von despek­tier­li­cher Überheblichkeit.

Dankens­wer­ter­wei­se tritt hier zur Retro­spek­ti­ve auch die Perspek­ti­ve. Heimat­pfle­ge – so verstan­den wie in dieser AG – hat nichts Verstaub­tes, sondern sieht im Vermächt­nis immer auch die Verpflich­tung. So werden marode Denkma­le geschil­dert, für die man unbedingt etwas tun muss. Und im Kapitel über die Fried­hö­fe klingt an, wie wichtig mahnen­de Stimmen sind, wenn es um die Bewah­rung von etwas so Elemen­ta­rem wie der Bestat­tungs­kul­tur geht.

Im Vorwort des Buches hebt Dr. Jörg Leist, der frühe­re OB von Wangen und Vorsit­zen­de der AG Heimat­pfle­ge, die wichti­ge „Siche­rungs­ar­beit heimat­lie­ben­der Menschen“ hervor, „die das Sehen noch nicht verlernt haben“. In der Tat. Da ist Manfred Thierer eine der Leitfi­gu­ren. Und sein Buch bietet uns nun besten Anschau­ungs­un­ter­richt, was alles an Kultur­er­be hierzu­lan­de zu entde­cken ist, wenn man nur die Augen aufmacht.

Manfred Thierer: Beseel­tes Land. Zeichen der Frömmig­keit im westli­chen Allgäu. Hrsg. von der AG Heimat­pfle­ge. 144 Seiten mit 330 Abbil­dun­gen. € 25. Im Buchhan­del erhält­lich oder über Tel: 07563–936111, Telefax: 07563–936299, E‑Mail: Jutta.Heinig@Kisslegg.de