BRÜSSEL/MOSKAU (dpa) — Sieben Sankti­ons­pa­ke­te hat die EU wegen des Angriffs auf die Ukrai­ne bereits gegen Russland verhängt — nun steht eine neue Straf­maß­nah­me im Raum: Die EU könnte Russen weitge­hend den Zutritt verwehren.

War es das für Russen mit dem Urlaub in Berlin, Paris oder Madrid? In der EU wird heftig über einen weitge­hen­den Verga­be­stopp für Visa an russi­sche Staats­bür­ger disku­tiert. Einige Länder sind längst vorge­prescht — doch Kanzler Olaf Scholz steht auf der Bremse, mal wieder.

Ist es nun Putins Krieg, den Russland gegen die Ukrai­ne führt, wie Scholz sagt? Oder trägt auch die russi­sche Bevöl­ke­rung einen nicht unerheb­li­chen Anteil daran? Sollten Russen also nicht mehr in die EU reisen dürfen?

Bislang war die Haltung der Europäi­schen Union eindeu­tig: Der russi­sche Präsi­dent Wladi­mir Putin und seine Günst­lin­ge sind verant­wort­lich für den Krieg. Viele von ihnen sind mit Sanktio­nen belegt worden. Wovor man sich in Brüssel bislang scheut, sind Strafen gegen die Bevöl­ke­rung — doch der Wind dreht sich, zumin­dest ein bisschen. Mehre­re Regie­run­gen sind mittler­wei­le der Ansicht, dass der russi­sche Angriffs­krieg auch für das Volk Konse­quen­zen haben sollte.

Druck kommt von Russlands direk­ten Nachbarn

Befeu­ert hatte die Debat­te der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodym­yr Selen­skyj Anfang August mit einer Forde­rung nach einem weltwei­ten Reise­bann für Russen. Inner­halb der EU machen Länder wie Estland, Lettland und Finnland Druck.

«Ich finde es nicht richtig, dass russi­sche Bürger als Touris­ten in die EU, den Schen­gen-Raum einrei­sen und Sight­see­ing machen können, während Russland Menschen in der Ukrai­ne tötet», sagte die finni­sche Minis­ter­prä­si­den­tin Sanna Marin Anfang der Woche. Ihre estni­sche Kolle­gin Kaja Kallas schrieb auf Twitter: «Europa zu besuchen ist ein Privi­leg, kein Menschen­recht.» Beide argumen­tie­ren auch aus eigener Betrof­fen­heit. Denn da der Flugver­kehr zwischen Russland und der EU infol­ge des Kriegs einge­stellt worden ist, sind die an Russland grenzen­den Länder Estland, Lettland und Finnland für Russen derzeit so etwas wie das Tor zur EU.

Immer mehr Länder setzen deren Reise­frei­heit nun jedoch Grenzen und schrän­ken die Verga­be von Schen­gen-Visa an Russen ein. Dazu gehören Estland, Lettland, Litau­en und Tsche­chi­en. Finnland will ab Septem­ber folgen, Polen erwägt eine ähnli­che Regelung. Dänemark dringt auf eine EU-Lösung und will sonst ebenfalls selbst handeln.

Estland geht seit diesem Donners­tag noch einen Schritt weiter: Das Land lässt selbst einen Großteil jener Russen nicht mehr ins Land, die bereits ein estni­sches Visum haben. Doch Allein­gän­ge bringen im Schen­gen­raum nicht viel, da das Visum eines Landes für den gesam­ten Schen­gen-Raum aus 26 europäi­schen Ländern gilt.

Bisher haben sich vor allem die Befür­wor­ter eines sogenann­ten Visastopps zu Wort gemel­det. Kriti­sche Stimmen aus den EU-Haupt­städ­ten gibt es wenige — mit Ausnah­me von Kanzler Scholz. «Es ist nicht der Krieg des russi­schen Volks, es ist Putins Krieg», betont er. Zudem verweist er etwa auf russi­sche Staats­bür­ger auf der Flucht. Ihnen dürfe man den Weg in die EU nicht erschwe­ren. Unter­stüt­zung bekommt Scholz vom promi­nen­ten Kreml­geg­ner Wladi­mir Milow, der vor einem «Visa-Krieg gegen Russen» warnte.

Ein grund­sätz­li­cher Bann für alle russi­schen Bürger ist recht­lich ohnehin keine Option. Vielmehr müsse jeder Antrag einzeln geprüft werden, heißt es aus der EU-Kommis­si­on. Nach einer Einzel­fall­prü­fung könnten Anträ­ge dann abgelehnt werden — etwa, weil jemand eine Bedro­hung für die öffent­li­che Ordnung oder die inter­na­tio­na­len Bezie­hun­gen sei. Bestimm­ten Perso­nen müsse immer ein Visum ausge­stellt werden, etwa Journa­lis­ten oder Dissidenten.

Visa-Stopp in Russland großes Thema

In Russland selbst gehört ein mögli­cher Visa-Stopp seit Tagen zu den meist­dis­ku­tier­ten Themen. Der Kreml warnte vor einer weite­ren Verschlech­te­rung der ohnehin bis zum Zerrei­ßen gespann­ten Bezie­hun­gen mit dem Westen. Der Vorschlag des ukrai­ni­schen Präsi­den­ten Selen­skyj sei an «Irratio­na­li­tät» kaum noch zu übertref­fen, sagte Kreml­spre­cher Dmitri Peskow. Versu­che, Russland zu isolie­ren, seien perspektivlos.

Sollte die Visa-Verga­be tatsäch­lich einge­schränkt werden, dürfte dies jedoch wie die voran­ge­gan­ge­nen Sanktio­nen öffent­lich wegge­lä­chelt werden. Schon jetzt haben andere und vor allem visafreie Ziele etwa in der Türkei und Ägypten mit Direkt­flü­gen Konjunktur.

Ohnehin verbrin­gen Russen ihren Urlaub fast nur in der Heimat. Das staat­li­che russi­sche Meinungs­for­schungs­in­sti­tut FOM veröf­fent­lich­te als Antwort auf die Diskus­si­on in der EU eine Umfra­ge, nach der sich knapp 70 Prozent der Befrag­ten noch nie im Ausland erholt haben. Ferien­or­te in Russland an der Schwarz­meer­küs­te oder in der Region Krasno­dar, an der Wolga oder auch im Altai-Gebir­ge erfreu­en sich seit Jahren wachsen­der Besucherzahlen.

Dennoch ist Russland stets das Land, aus dem die meisten Anträ­ge für ein Kurzzeit-Visum im Schen­gen­raum kommen. 2021 waren es nach Daten der EU-Kommis­si­on coronabe­dingt zwar nur 536 241 Anträ­ge, dies war jedoch immer noch knapp jedes fünfte Gesuch. Vor der Pande­mie 2019 wurden sogar mehr als vier Millio­nen Anträ­ge gestellt, was fast einem Viertel aller Ersuchen entsprach.

Wie weiter also? Tsche­chi­en, das derzeit den Vorsitz der EU-Staaten innehat, will die Frage bei einem Treffen der EU-Außen­mi­nis­ter Ende August zur Sprache bringen. Außen­mi­nis­ter Jan Lipavs­ky führt ein weite­res Argument für Visa-Einschrän­kun­gen ins Feld: Es hande­le sich auch um eine Frage der Sicher­heit, beton­te der Politi­ker unlängst. Es gehe darum, den Einfluss und die Tätig­keit der russi­schen Geheim­diens­te auf dem Gebiet der EU langfris­tig zurückzudrängen.