Belage­rung, Bomben­ha­gel und kein retten­der Ausweg: Die Hilfe­ru­fe aus der ukrai­ni­schen Hafen­stadt Mariu­pol — Heimat von mehr als 400.000 Menschen — werden dramatischer.

Mit Besorg­nis wird inter­na­tio­nal beobach­tet, wie Russland nach seinem stockend begon­ne­nen Angriffs­krieg nun die Kämpfe umso bruta­ler in bewohn­te Gebie­te trägt. Der Kriegs­be­richt­erstat­ter des russi­schen Staats­sen­ders RT, Semjon Pegow, bezeich­net die Einschlie­ßung als «Mariu­po­ler Kessel».

«Wie weit werden russi­sche Truppen in der Ukrai­ne gehen», fragt der Chef der Menschen­rechts­or­ga­ni­sa­ti­on Human Rights Watch, Kenneth Roth, besorgt. «Das russi­sche Militär hat in der Vergan­gen­heit auf solchen Wider­stand mit schwe­ren Verstö­ßen gegen das Kriegs­völ­ker­recht reagiert, darun­ter auch vorsätz­li­ches Vorge­hen gegen Zivilis­ten, die Ziel von willkür­li­chen und unver­hält­nis­mä­ßi­gen Angrif­fen waren.»

Russland hat die Ukrai­ne am 24. Febru­ar angegrif­fen. Mehre­re Metro­po­len sind jetzt von russi­schen Truppen einge­kreist — Lebens­mit­tel, Heizwär­me und Elektri­zi­tät werden knapp. Zerstö­run­gen durch Granat­an­grif­fe und einschla­gen­de Raketen nehmen zu, die Zahl der Toten wächst.

«Mariu­pol wird wahrschein­lich als Fanal dienen»

«Der Plan Putins und seiner Generä­le ist nicht aufge­gan­gen. Das heißt, sie müssen jetzt anders agieren, um zum militä­ri­schen Erfolg zu gelan­gen», sagt der Militär­ex­per­te Micha­el Karl, der sich als Forscher der Bundes­wehr-Denkfa­brik GIDS mit Russland und Osteu­ro­pa befasst. Er verweist auf die russi­sche Kriegs­füh­rung in Syrien und sieht Ähnlich­kei­ten, wie die Auswahl der Ziele. «Mariu­pol wird wahrschein­lich als Fanal dienen. Wir gehen davon aus, dass diese Stadt eine Art Exempel sein wird, wo mit Bombar­de­ments und Raketen- und Artil­le­rie­feu­er sowie einer Einkes­se­lung die Zivil­be­völ­ke­rung terro­ri­siert und die Stadt vernich­tet werden», warnt er.

Nicht nur auf Aleppo, auch auf die tsche­tsche­ni­sche Haupt­stadt Grosny kann man verwei­sen. Sie galt als eine der am schwers­ten zerstör­ten Städte weltweit, war aber auch Schau­platz von heftigs­ten Verlus­ten einer russi­sche Panzer­trup­pe, die unzurei­chend vorbe­rei­tet und mit Wehrpflich­ti­gen einge­setzt wurde.

«Wenn Sie einen Infan­te­ris­ten fragen: Das Schlimms­te, was es für ihn gibt, dann ist es der Orts- und Häuser­kampf. Hinter jeder Tür, hinter jeder Mauer lauert der Feind. Versteck­te Ladun­gen und Hinter­hal­te. Wer da rein will, der muss hervor­ra­gend ausge­bil­det sein», sagt Karl. «Aber der, der es vertei­digt, der muss es nicht. Ihm reicht oftmals der Wille, die entspre­chen­de Bewaff­nung und nicht zuletzt die Ortskennt­nis.» Wenn es Plan der Russen sei, im Orts- und Häuser­kampf die Großstäd­te zu erobern, «dann werden sie hohe Verlus­te erleiden».

Für die russi­schen Truppen ist die Haupt­stadt Kiew weiter der eigent­li­che Schwer­punkt, sagte der Militär­ex­per­te. Wenn Kiew fallen sollte, werde der Strom Dnipro — der aus Belarus kommend durch die Ukrai­ne ins Schwar­ze Meer fließt — als eine Art natür­li­che Grenze einen ganz wichti­gen und nicht nur symbo­li­schen, sondern auch geostra­te­gi­schen Wert für die weite­re Vertei­di­gung der Ukrai­ne haben.

Soll eine schnel­le Entschei­dung erzwun­gen werden?

Eine Frage ist, wie lange das sanktio­nier­te Russland diesen Krieg moralisch und auch wirtschaft­lich durch­hal­ten kann. Die GIDS-Wissen­schaft­ler gehen davon aus, dass Moskau zumin­dest das Geld ausgeht. In einer konser­va­ti­ven Gesamt­rech­nung koste der Krieg Russland ungefähr 15 Milli­ar­den US-Dollar (knapp 14 Mrd Euro) pro Tag. Je nach Rechnung habe Moskau noch ein finan­zi­el­les Polster für rund einen Monat. Droht nun ein Versuch, mit einem Kurswech­sel eine schnel­le Entschei­dung zu erzwingen?

«Wir erinnern die russi­schen Behör­den daran, dass geziel­te Angrif­fe auf Zivilis­ten und zivile Objek­te sowie das so genann­te Flächen­bom­bar­de­ment in Städten und Dörfern und andere Formen wahllo­ser Angrif­fe nach dem Völker­recht verbo­ten sind und Kriegs­ver­bre­chen darstel­len können», mahnte eine Spreche­rin des Hochkom­mis­sa­ri­ats für Menschen­rech­te. Sie bekräf­tig­te, dass ein in Mariu­pol angegrif­fe­nes Gebäu­de eine funktio­nie­ren­de Geburts­kli­nik gewesen sei.

Bei einer Dring­lich­keits­sit­zung des UN-Sicher­heits­ra­tes in New York am Freitag sagte die UN-Beauf­trag­te für politi­sche Angele­gen­hei­ten, Rosema­ry DiCar­lo, es lägen «glaub­wür­di­ge Berich­te über den Einsatz von Streu­mu­ni­ti­on durch russi­sche Streit­kräf­te auch in besie­del­ten Gebie­ten» vor. Diese seien nach dem humani­tä­ren Völker­recht verbo­ten und könnten zusam­men mit dem Flächen­bom­bar­de­ment von Gebie­ten Kriegs­ver­bre­chen darstellen.

Der Blick richtet sich nun auf die Lage um die Haupt­stadt Kiew. In der dritten Kriegs­wo­che hat die russi­sche Armee begon­nen, sich auf den erreich­ten Positio­nen festzu­set­zen. Die über Tage als Kolon­ne gestau­ten Panzer, Waffen­sys­te­me und Truppen­trans­por­ter haben teils die Straßen verlas­sen und gedeck­te Warte­po­si­ti­on in Wäldern bezogen.

Das Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­um in Kiew geht dabei von Umgrup­pie­run­gen und dem Heran­füh­ren von Reser­ven und Nachschub aus. Östlich von Kiew gab es zum Wochen­en­de hin verein­zel­te Versu­che, die Vertei­di­gung der Dreimil­lio­nen­stadt auszu­tes­ten. Der russi­sche Kräfte­ein­satz reicht dabei bisher — wie schon vor dem Krieg von Beobach­tern gemut­maßt — nicht aus, um entschie­de­ne Angrif­fe an allen Front­ab­schnit­ten zu führen.

Haupt­kriegs­schau­platz bleiben Luhansk und Donezk

Im Nordos­ten und Osten bleibt die Lage der Städte Tschern­hi­hiw, Sumy, Ochtyr­ka und der Millio­nen­stadt Charkiw prekär. Sie sind ständi­gem Beschuss teils mit Grad-Raketen­wer­fern und Bombar­de­ments aus der Luft ausge­setzt. Nach russi­schen Angaben werden nur militä­ri­sche Ziele angegrif­fen, doch werden täglich zivile Opfer und die Zerstö­rung von Wohnhäu­sern gemel­det. Ursache dafür könnte auch die Vertei­di­gung der Städte durch die ukrai­ni­sche Artil­le­rie aus Wohnge­gen­den heraus sein.

Landes­weit versucht die russi­sche Luftwaf­fe, die relati­ve Luftüber­le­gen­heit auszu­nut­zen und den ukrai­ni­schen Gegner zu zermür­ben. Zusätz­lich dazu werden vor allem in den Nächten weiter militä­ri­sche Ziele auch im tiefen ukrai­ni­schen Hinter­land, wie die Militär­flug­plät­ze Luzk und Iwano-Frankiwsk, mit Raketen angegriffen.

Der Haupt­kriegs­schau­platz bleiben dabei die ostukrai­ni­schen Gebie­te Luhansk und Donezk. Täglich werden in den Berich­ten der Separa­tis­ten und des russi­schen Vertei­di­gungs­mi­nis­te­ri­ums neue erober­te Ortschaf­ten gemel­det. Entschei­den­de Erfol­ge konnten jedoch auch hier nicht erzielt werden.

Dem Anschein nach ist im übrigen Teil des Donbass das Ziel, den Haupt­teil der ukrai­ni­schen Truppen durch eine Umfas­sungs­be­we­gung von Isjum im Gebiet Charkiw bis ins Gebiet Saporischschja einzu­kes­seln. Doch sind beide Stoßgrup­pen noch etwa 270 Straßen­ki­lo­me­ter vonein­an­der entfernt. Die bisher einge­setz­ten russi­schen Kräfte schei­nen nicht ausrei­chend, um das Vorha­ben zu verwirklichen.

Von Carsten Hoffmann und Andre­as Stein, dpa