BERLIN (dpa) — Graubrot, Gouda, Gürkchen — erledigt vor der «Tages­schau»: das Klischee vom deutschen Dinner. Doch der Kultur­wan­del ist deutlich erkenn­bar. Stirbt das klassi­sche Abend­brot nach hundert Jahren aus?

«Abend­brot» wird in Deutsch­land oft das Abend­essen genannt. Zu sich genom­men wird es zwischen 17 und 19 Uhr. So erklä­ren es auch Deutsch­land­rei­se­füh­rer oder Bücher über Deutsch als Fremdsprache.

Doch in der moder­nen Arbeits­welt und der globa­li­sier­ten Zeit des Low-Carb-Dinners, also der Empfeh­lung vieler Ernäh­rungs­exper­ten, abends kohlen­hy­drat­arm zu essen: Da stirbt die Mahlzeit der Schei­ben Brot mit Aufschnitt mögli­cher­wei­se aus. Droht der Unter­gang des Abend­brots? Herrscht jetzt Schnittchendämmerung?

Die Wurst­in­dus­trie gibt sich jeden­falls leicht alarmiert. Aller­dings löst nicht etwa — wie man denken könnte — das wachsen­de Angebot veganer und vegeta­ri­scher Fleischer­satz­pro­duk­te Sorgen aus. «Wir können aus einer Masse an Rohstof­fen eine Wurst­wa­re machen. Ob da nun Fleisch oder Erbsen drin sind, ist zweit­ran­gig», sagte Sarah Dhem, die Präsi­den­tin des BVWS (Bundes­ver­band Deutscher Wurst- & Schin­ken­pro­du­zen­ten) kürzlich der «Neuen Osnabrü­cker Zeitung».

«Die Zeit der Völle­rei ist vorbei»

Folgen­rei­cher sei der Wandel der Essge­wohn­hei­ten insge­samt. Statt Pausen- oder Abend­brot mit Wurst­be­lag kämen zuneh­mend andere Gerich­te auf die Teller. Die Wurst­bran­che sei dabei, sich neu aufzu­stel­len, sagte Dhem mit Blick auf sinken­den Fleisch­kon­sum. «Die Zeit der Völle­rei ist vorbei.»

In Ländern wie Spani­en und Griechen­land, in denen Deutsche gerne urlau­ben, wird abends meistens warm geges­sen — und auch später als hierzu­lan­de. Brot mit Wurst und Käse gilt dort höchs­tens als Vorspei­se und nicht als vollwer­ti­ge Mahlzeit, die man ganz teuto­nisch recht­zei­tig zu den Abend­nach­rich­ten im Fernse­hen beendet hat.

Der deutsche Brauch, abends kalt zu essen, stammt Kultur­wis­sen­schaft­lern zufol­ge aus den 1920er Jahren. Damals dominier­te mehr und mehr die Indus­trie den Alltag — im Gegen­satz zu den landwirt­schaft­li­che­ren Struk­tu­ren in Staaten wie Itali­en und Frank­reich. In Fabri­ken gab es immer öfter Kanti­nen. Wer dort mittags speis­te, wollte abends oft kein warmes Essen mehr. Da die Arbeit dank Techni­sie­rung auch körper­lich weniger anstren­gend wurde, liebten es viele am Abend leich­ter: Brot, Wurst, Käse, bisschen Rohkost, fertig.

Das Abend­brot setzte sich dann nach dem Krieg noch stärker durch. Damals stieg auch die Zahl erwerbs­tä­ti­ger Frauen. Das schnell gemach­te Abend­brot wurde Tradi­ti­on in vielen Famili­en. Langwei­lig waren die Schnitt­chen am Abend dabei übrigens nie. Deutsch­land ist bekannt­lich stolz auf Hunder­te Brotsor­ten und Wurst­wa­ren, gern dekoriert mit Gewürz­gür­k­chen, Radies­chen oder hart gekoch­tem Ei.

Ein Leben ohne abend­li­che Leberwurststulle

Dennoch führen Millio­nen Deutsche heute ein Leben ohne abend­li­che Leber­wurst­stul­le: Der Trend weg vom kalten Snack ist von Sylt im Norden bis ins Allgäu im Süden deutlich erkennbar.

Die Allens­bach-Studie «So is(s)t Deutsch­land» für den Nahrungs­mit­tel­kon­zern Nestlé förder­te zutage, dass das Abend­essen unter der Woche bei vielen inzwi­schen die wichtigs­te Mahlzeit gewor­den ist. 2019 nannten 38 Prozent das Abend­essen die Haupt­mahl­zeit des Tages, zehn Jahre zuvor war es ein Drittel der Bevölkerung.

Die Corona-Pande­mie, die Millio­nen monate­lang zu Hause arbei­ten ließ, hat vielen Famili­en ermög­licht, auch mitten am Tag zusam­men­zu­kom­men. Doch ein echtes Revival des Mittag­essens sehen Exper­ten trotz Homeof­fice nicht. Nestlé-Sprecher Alexan­der Anton­off sagt, alles deute darauf hin, dass der Megatrend zur warmen Haupt­mahl­zeit am Abend weiter­ge­he. Das sozia­le Lager­feu­er abends passe mehr zum immer entstruk­tu­rier­te­ren Alltag von Millio­nen Haushal­ten in Mitteleuropa.

Die Künst­le­rin und Gieße­ner Hochschul­leh­re­rin Ingke Günther glaubt jedoch bei alledem nicht, dass das früher populä­re Abend­brot in Deutsch­land vollends verschwin­det. Es habe aber seine jahrzehn­te­lang vorherr­schen­de Rolle verlo­ren: «Das liegt daran, dass die Arbeits- und Lebens­wirk­lich­kei­ten diver­ser gewor­den sind. Aber bei Älteren und in Famili­en mit Kindern ist das Abend­brot oft noch die Regel.» Und in einigen städti­schen Milieus, wo Bio-Bäcke­rei­en eine neue Brotkul­tur entwi­ckelt haben, gebe es eine bewuss­te Rückbe­sin­nung aufs Abendbrot.

Günther bezeich­net sich unter anderem als «Abend­brot­for­sche­rin». Sie meint: «Das Konzept, gemein­sam am Tisch zu sitzen und sich das Brot selbst zu belegen, ist einfach bestechend. Die Bilder von einem gemein­sa­men Abend­brot sind in den Köpfen vieler Leute sehr leben­dig — auch wenn es womög­lich nur am Wochen­en­de zelebriert wird.»

Von Gregor Tholl, dpa