RAVENSBURG/BERLIN – Selma Schlosser ist 15 Jahre alt, kommt aus Horgenzell und hat die SPD-Bundestagsabgeordnete Heike Engelhardt im Mai 2022 als Schüler-Praktikantin unterstützt. Auf diese Weise hatte sie Gelegenheit, den Alltag der Parlamentarierin im Wahlkreis und in Berlin zu erleben. Selmas Aufgaben waren vielseitig: Sie recherchierte zu verschiedenen Themen wie z.B. den Mitgliedschaften im Europarat, unterstützte bei der Vorbereitung einer Podiumsdiskussion und half dabei, Anfragen von Bürger*innen zu beantworten. Außerdem begleitete die Schülerin des Welfen-Gymnasiums die Abgeordnete zu verschiedenen Terminen in ihrem Wahlkreis und nahm an einer politischen Bildungsfahrt nach Berlin teil.
Darüber hinaus führte Selma im Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages das folgende Interview mit Heike Engelhardt:
Warum sind Sie politisch aktiv?
Ab wann wussten Sie, dass Sie etwas Politisches machen wollen?
Ich habe mich immer dann zu Wort gemeldet, wenn ich das Gefühl hatte, es wird jemand ungerecht behandelt. Das war bereits in meiner Schulzeit so, das habe ich schon im Kindergarten nicht gemocht und auch zum Ausdruck gebracht. Nach dem Studium habe ich mich in der Gewerkschaft, konkret in der Junglehrervertretung engagiert. Für mich war immer klar, man geht in die Gewerkschaft und man organisiert sich gemeinsam, um für die eigene Gruppe, in dem Fall für die Beschäftigten gute Arbeitsbedingungen zu erreichen. So richtig parteipolitisch wurde es, als mich die SPD in Ravensburg angesprochen hat, ob ich Interesse hätte, auf die Gemeinderatsliste zu gehen. Als Lückenfüllerin sozusagen denn man brauchte dringend Leute auf der Liste. Nach dem Motto, man kennt dich ja und du bist im Elternbeirat. Da hab ich zugesagt, ohne zu wissen, wieviel Stimmen man so bekommt. Aus dem Stand ohne Wahlkampf, nur mit dem Gesicht auf dem Plakat, hab ich dann etwa 2000 Stimmen geholt. 5 Jahre später habe ich wieder für den Gemeinderat kandidiert und hab mich so verbessert, dass ich die erste Nachrückerin war. Im Laufe der Amtsperiode bin ich dann in den Gemeinderat gekommen. Das war der Einstieg und dann hab ich entschieden: Wenn ich jetzt in den Gemeinderat einziehe, dann trete ich auch in die Partei ein. So bin ich SPD Mitglied geworden.
Seit wann sind Sie Mitglied der SPD?
Woher wussten Sie, dass die SPD die richtige Partei für Sie ist?
Im Juni 2014 bin ich in die Partei eingetreten, habe mir dies damals praktisch selbst zum Geburtstag geschenkt. Das war direkt nach der Kommunalwahl. Die SPD war für mich schon immer die richtige Partei. Ich hatte in der Verwandtschaft SPD Mitglieder, ohne dass das ein großes Thema war. Ich habe mich immer der SPD zugehörig gefühlt und immer sozialdemokratisch gewählt. Schon immer war es die SPD, die sich am ehesten für die Belange der Menschen einsetzt, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Diese Menschen brauchen starke Fürsprecher, da deren Interessen ansonsten niemand vertritt.
Im Herbst vergangenen Jahres wurden Sie ja Bundestagsabgeordnete: Welche Erwartung hatten Sie an die auf Sie zukommende Arbeit und welche davon wurden bzw. wie wurden diese erfüllt?
Interessanterweise hatte ich wenige Erwartungen. Ich war vielmehr sehr gespannt, was mich insgesamt im Deutschen Bundestag erwarten würde. Deshalb bin ich sehr offen damit umgegangen. Ich wusste grundsätzlich, ich möchte etwas rund um das Thema „Gesundheit“ übernehmen. Durch meine Berufserfahrung der letzten 22 Jahre hat sich das einfach angeboten. Ich hatte allerdings auch ein ganz konkretes Ziel: Die Reform des § 64. Es geht hier im Detail darum, das psychisch kranke bzw. suchtkranke Straftäter nicht in ein Gefängnis müssen, sondern einen Teil ihrer Strafe in der Therapie verbringen. Mit dem Ziel, dann wieder zurück in die Gesellschaft zu finden. In der Praxis habe ich festgestellt, dass dieser veraltete Paragraph nicht sinnvoll ist. Da kommen die falschen Leute in die Therapie und blockieren Plätze in Einrichtungen. Diese Personen sind eigentlich nicht therapiefähig, wollen zum Teil auch nicht therapiert werden, sondern sich einen vergleichsweise gemütlichen Haftaufenthalt erschleichen. Dass diese Personen dann auch noch den Aufenthalt derjenigen stören, die auf die Therapie angewiesen sind, ist die Konsequenz.
Deshalb wusste ich, diesen § 64 möchte ich reformieren.
Und das war tatsächlich eine Überraschung, die ich erlebt habe: Den Wunsch, den Paragraphen zu reformieren, habe ich als mein Ziel artikuliert, als ich mich das erste Mal in der Landesgruppe Baden-Württemberg vorgestellt habe. Anschließend kam der Kollege Johannes Fechner auf mich zu, der heutige Justiziar der SPD-Bundestagsfraktion. Er sagte, das ist ein ganz konkretes Anliegen, das du hier hast. Das verfolgen wir und setzen es um. Dann stand es im Koalitionsvertrag, dass man zukünftig wieder mehr auf die Therapie achtet und jetzt hab ich im Mai das erste Mal zu diesem Thema im Parlament gesprochen. Das war etwas, was mich wirklich sehr überrascht hat: wie schnell es gehen kann. Andererseits dachte ich, vor dem Hintergrund langjähriger Gremienerfahrung, dass man oftmals doch einen sehr langen Atem braucht und sehr dicke Bretter bohren muss, wenn man etwas verändern will. In jedem Fall ist es nötig, klare Ziele zu haben.
Mit welchen Zielen sind Sie außerdem noch Abgeordnete geworden?
Ich bin Frauenpolitikerin. Mein erklärtes Ziel, dass Frauen zu gleichen Teilen im Parlament sitzen, wie sie auch in unserer Gesellschaft vertreten sind. Da haben wir noch ein großes Stück vor uns. Ich würde mir ein Paritätsgesetz wünschen, so wie es das bereits in Frankreich gibt. Ich hoffe, dass wir mit der Wahlrechtsreform, die wir jetzt angehen wollen, noch mehr Geschlechtergerechtigkeit ermöglichen und durchsetzen können. Bei aller Diversität und Vielfalt, die wir zum Glück haben, müssen wir aufpassen, dass wir nicht den Blick auf Frauen verlieren. Als Frauenförderin bin ich angetreten, in diesem Bereich war ich die letzten 10 Jahre beruflich tätig. Das ist ein Thema, das mir sehr wichtig ist. Da möchte ich unbedingt dran bleiben.
Wie kann man sich Ihren typischen Tagesablauf als Abgeordnete vorstellen?
Der beginnt sehr früh. Heute z.B. ging es los mit dem ersten Termin schon gegen 7.00 Uhr mit einem parlamentarischen Frühstück mit der Robert-Bosch-Stiftung. Dabei ging es um die Weiterentwicklung des Gesundheitswesens. Also darum, welche neuen Strukturen wir etablieren können, um die Versorgung unserer Bevölkerung in den Städten und auf dem Land zu gewährleisten. Danach folgt in der Regel eine Ausschusssitzung oder ich führe Gespräche mit Menschen, die einen Rat möchten, oder, dass ich mich für eine bestimmte Sache einsetze. Mittwoch bis Freitag sind Plenartage. Da sind die Abgeordneten im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, besonders wenn es um Themen geht, für die man selbst die Berichterstattung hat. Berichterstattung bedeutet, dass ich für dieses Thema in meinem Ausschuss – also entweder im Gesundheitssauschuss oder im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe zuständig bin. Wenn es dann zur Debatte zu diesen Themen kommt, bin ich eine der Rednerinnen meiner Fraktion. Diese Rede bereite ich nach Möglichkeit schon ein paar Tage vor der Debatte gut vor. Nach dem Plenum ist aber noch nicht Schluss. Es folgen parlamentarische Abende, bei denen man sich wieder mit Interessenvertretern trifft. Zuletzt war ich z.B. beim Hebammenverband eingeladen. Dort habe ich mich darüber ausgetauscht wie Finanzierung von Geburtshilfe zum Wohle aller Beteiligten aussehen muss. Es ist also ein sehr langer und abwechslungsreicher Tag, der oft erst gegen 23 Uhr endet. Dann heißt es so viel Schlaf wie möglich bekommen, bevor es am nächsten Morgen wieder früh losgeht.
Sie haben viele Aufgaben. Was macht am meisten Spaß?
Spaß macht immer die Aufgabe, in die man sich besonders hineinkniet. Besonders wichtig ist mir das Thema Menschenrechte. Deshalb halte ich persönlich meine Einsätze zur Wahlbeobachtung in Serbien und Guatemala für sehr wertvoll, da man im Vorfeld der Wahlen Vertreter*innen der Zivilgesellschaft kennenlernen kann, die über die allgemeine Lage im Land berichten. Das sind teilweise sehr erschütternde Momente – so hat mir eine Menschenrechtsaktivistin aus Kolumbien geschildert, wie fünf Menschen aus ihrer Familie gewaltsam entführt wurden. Drei davon spurlos. Mit Hilfe einer lokalen Organisation ist es ihr gelungen, zumindest die Gräber von zweien ausfindig zu machen. Das sind Themen, die schockieren, aber sie zu kennen ist sehr relevant. Hier bringe ich mich mit meiner Erfahrung und meinem Wissen gerne ein, um dazu beizutragen, die Lage zu verbessern.
Welche Kompetenzen sollte Politiker*innen haben?
Es ist sicher von Vorteil, wenn man eine rasche Auffassungsgabe hat, wenn man schnell Zusammenhänge erkennt und versteht. Außerdem ist ein gutes Gedächtnis hilfreich. Wenn man das nicht hat, ist es umso wichtiger, dass man ein gutes Team hat, das dieses Gedächtnis unterstützt. Das geschieht durch gute Terminvor- und nachbereitungen, die als Gedankenstützen dienen. Auch sollte man keine Angst haben, vor vielen Menschen zu reden. Extrovertiert zu sein, ist also von Vorteil. Auch deshalb wird Politiker*innen scherzhaft nachgesagt, gerne und reflexartig in jedes Mikrofon zu sprechen, ungeachtet des Themas.
Welchen Tipp würden Sie jungen Menschen geben, die Politiker*innen werden möchten?
Informiert euch breit, sucht euch Themen, die euch interessieren. Aber sucht auch Themen, die aktuell bedeutsam sind und arbeitet euch dort ein. Engagiert euch in euren Gemeinden, sucht Menschen, die die gleichen Ziele verfolgen wie ihr und vernetzt euch bestmöglich. Das ist eine wesentliche Voraussetzung. Als einzelner Akteur kann man nichts erreichen, es geht immer darum, Mehrheiten zu gewinnen – Politik ist ein Mannschaftssport. Im Moment bin ich in der komfortablen Situation, der größten Fraktion im Deutschen Bundestag anzugehören. Die SPD stellt mit Olaf Scholz den Bundeskanzler und führt die Regierung an – deshalb können wir gerade gestalten. Oppositionspolitik funktioniert etwas anders – hier geht es darum, die Schwachstellen der Regierung zu suchen und öffentlich anzuprangern. Insgesamt ist es wichtig, dass man sich für unsere Gesellschaft interessiert und dass man Menschen mag.
Wie kann man als Jugendlicher Einfluss auf die Politik nehmen?
Zum Beispiel über Jugendparlamente. In den Gemeinden gibt es Schülerräte bzw. Jugendgemeinderäte. Außerdem können junge Menschen sich jederzeit an gewählte Stadträt*innen ihres Vertrauens wenden und ein Anliegen vorbringen, das unterstützt werden soll. Man kann auch direkt an die (Ober-)Bürgermeister*innen schreiben und Wünsche oder Sorgen auch mit konkreten Lösungen vorbringen.
Wer ist ihr Vorbild? Wer hat Sie beeinflusst?
Herta Däubler-Gmelin ist eine Persönlichkeit, die ich sehr toll finde. Sie hat immer gesagt, was sie denkt, und hat sich niemals hinter Konventionen versteckt. Sie hat immer ihr Ding gemacht und wenn sie damit angeeckt ist, dann hat sie das ausgehalten. Das ist für mich eine aufrechte, sehr große Sozialdemokratin, die ich als Vorbild bezeichnen würde.
Welche Persönlichkeit hätten Sie gerne kennengelernt?
Nelson Mandela – weil er ein integrer Widerstandkämpfer war, der für seine Überzeugung sogar ins Gefängnis gegangen ist, der diese Haft überstanden hat und der vollkommen zurecht den Friedensnobelpreis erhalten hat. Ihm ist es gelungen, zwei ursprünglich unüberbrückbare Gegensätze zu vereinen. Das finde ich faszinierend, an dieser Situation weder zu verzweifeln, noch zu zerbrechen, wissend, dass die ganze Welt auf das Land schaut. Mandela ist es unter den Augen der Weltöffentlichkeit gelungen, die Apartheid abzuschaffen und eine neue Staatsform in Südafrika zu etablieren. Das ist beeindruckend.
Haben Sie ein Lebensmotto?
Nicht jammern, tun!
An welchen Moment in Ihrem politischen Leben werden Sie immer denken?
Als ich das erste Mal als gewählte Abgeordnete den Plenarsaal des Deutschen Bundestages betreten habe. Wegen Corona war das bei meiner ersten Fraktionssitzung dort. Es war sehr ergreifend, von innen auf diese Kuppel zu schauen und daran zu denken, was alles Wichtiges an diesem Ort bereits geschehen ist. Ich empfinde es als große Ehre, Teil dieses Parlamentes zu sein.