CALAIS/LONDON (dpa) — So ein Unglück gab es im Ärmel­ka­nal wohl noch nie: Dutzen­de Migran­ten ertrin­ken in den kalten Fluten. Der Streit um die illega­len Überfahr­ten belas­tet das Verhält­nis zwischen Paris und London.

Nach dem Tod von mindes­tens 27 Menschen im Ärmel­ka­nal geben sich briti­sche und franzö­si­sche Stellen gegen­sei­tig die Schuld an der Katastrophe.

Eine Minis­te­ri­ums­spre­che­rin in Paris verwies darauf, dass dies erst eine vorläu­fi­ge Bilanz sei. Am Abend hatte Innen­mi­nis­ter Gérald Darma­nin noch eine Zahl von 31 Toten genannt. Die mariti­me Präfek­tur sprach ebenfalls von 27 Toten sowie zwei Überle­ben­den, die an Land gebracht worden seien.Wie viele Menschen insge­samt mit dem havarier­ten Boot im Ärmel­ka­nal unter­wegs waren, lasse sich abschlie­ßend noch nichts sagen, so die Sprecherin.

Macron und Johnson beraten

Der briti­sche Premier­mi­nis­ter Boris Johnson mahnte zwar eine Zusam­men­ar­beit an, zugleich forder­te er aber Frank­reich zu schär­fe­ren Kontrol­len auf. Der Vorfall zeige, dass die bishe­ri­gen Maßnah­men nicht ausreich­ten, um Migran­ten von der gefähr­li­chen Überfahrt abzuhal­ten. Frank­reichs Präsi­dent Emmanu­el Macron und der briti­sche Premier­mi­nis­ter haben über Schrit­te zur Verhin­de­rung weite­rer solcher Dramen beraten. Beide hätten sich auf verstärk­te Anstren­gun­gen verstän­digt, Schleu­ser­ban­den zu stoppen, die das Leben von Menschen in Gefahr bringen, teilte die briti­sche Seite nach dem Telefo­nat am späten Mittwoch­abend mit. Zugleich beton­ten Macron und Johnson die Bedeu­tung einer engen Zusam­men­ar­beit mit Belgi­en, den Nieder­lan­den und anderen Partnern auf dem Kontinent.

Macron äußer­te nach Angaben des Elysée-Palas­tes in Paris die Erwar­tung, dass die Briten zu Zusam­men­ar­beit bereit seien und das Flücht­lings­dra­ma nicht zu politi­schen Zwecken instru­men­ta­li­sier­ten. Es müsse in einem Geist der Koope­ra­ti­on und unter Achtung der Menschen­wür­de gehan­delt werden.

Am Mittwoch war ein Boot mit 33 Migran­ten, die illegal nach Großbri­tan­ni­en einrei­sen wollten, im Ärmel­ka­nal geken­tert. Dabei starben 27 Menschen, darun­ter fünf Frauen und ein Mädchen, wie die franzö­si­schen Behör­den mitteil­ten. Vier mutmaß­li­che Schleu­ser wurden festge­nom­men. Nach franzö­si­schen Angaben war es der bisher schlimms­te Vorfall mit Migran­ten in der Meeres­en­ge. Innen­mi­nis­ter Gérald Darma­nin sagte, das gebrech­li­che Schlauch­boot ähnele eher einem aufblas­ba­ren Swimming­pool für den Garten. Der Ärmel­ka­nal zwischen Dover und Calais gilt als die verkehrs­reichs­te Schiff­fahrts­stra­ße der Welt.

Stimmen aus Frank­reich und Großbritannien

«Dies zeigt, dass die Banden, die Menschen in diesen gefähr­li­chen Gefähr­ten aufs Meer schicken, sich von nichts stoppen lassen», sagte Premier Johnson. Er bot an, die franzö­si­schen Beamten bei den Kontrol­len am Kanal zu unter­stüt­zen. In Nordfrank­reich warten etliche Migran­ten unter widri­gen Umstän­den auf eine Überfahrt nach Großbri­tan­ni­en. Wenn den Schleu­sern nicht deutlich gemacht werde, dass ihr Geschäfts­mo­dell nicht mehr funktio­nie­re, würden sie weiter­hin die Leben von Menschen aufs Spiel setzen und «mit Mord davon­kom­men», sagte Johnson.

Auch Darma­nin pochte auf ein härte­res Vorge­hen gegen die Schleu­ser, die er mit Terro­ris­ten und großen Drogen­bos­sen verglich. «Das ist ein inter­na­tio­na­les Problem», sagte er. «Die Antwort muss auch aus Großbri­tan­ni­en kommen, wir müssen gemein­sam gegen Schleu­ser kämpfen.» Nötig sei ein koordi­nier­tes Vorge­hen auch unter Einbin­dung von Belgi­en, den Nieder­lan­den und Deutschland.

Frank­reichs Staats­chef Emmanu­el Macron verwies auf die gemein­sa­men Anstren­gun­gen mit Großbri­tan­ni­en, seit Jahres­be­ginn seien an der franzö­si­schen Küste bereits 1552 Schleu­ser festge­nom­men und 44 Schleu­ser­netz­wer­ke zerschla­gen worden. «Wenn wir nicht sofort unsere Anstren­gun­gen verstär­ken, werden sich weite­re Tragö­di­en wiederholen.»

Im laufen­den Jahr haben bisher mehr als 25.700 Menschen illegal den Ärmel­ka­nal überquert. Das sind mehr als dreimal so viele wie im gesam­ten Jahr 2020. Erst im Juli hatten London und Paris ein neues Koope­ra­ti­ons­ab­kom­men verein­bart, um die wachsen­de Zahl der Migran­ten, die mit kleinen Booten über den Ärmel­ka­nal nach England kommen, in den Griff zu bekom­men. London sagte dabei 62,7 Millio­nen Euro zu, um die franzö­si­schen Behör­den zu unterstützen.

Kritik schlug Johnson aber auch im eigenen Land entge­gen. Die menschen­feind­li­che Politik seiner konser­va­ti­ven Regie­rung sei für die Tragö­die verant­wort­lich, beton­ten mehre­re Politi­ker der opposi­tio­nel­len Labour-Partei am Mittwoch­abend. Anstel­le schar­fer Asylge­set­ze müsse die Regie­rung humane und siche­re Wege nach Großbri­tan­ni­en bieten.

Vor allem die briti­sche Innen­mi­nis­te­rin Priti Patel steht wegen der wachsen­den Zahl an Migran­ten unter Druck. Konser­va­ti­ve Kreise und Medien sprechen von einer «Krise». Aller­dings ist die Zahl der Flücht­lin­ge, die in Großbri­tan­ni­en Asyl beantra­gen, deutlich niedri­ger als in anderen europäi­schen Ländern. Patel hatte angekün­digt, die Überfahr­ten zu beenden. Nach dem Brexit führte die Regie­rung schar­fe Zuwan­de­rungs­re­geln ein. Noch aber hat Patel kein Mittel gefun­den, die Migra­ti­on über den Ärmel­ka­nal zu stoppen. Zuletzt kündig­te sie erneut eine Verschär­fung der Asylre­geln an.

Am Mittwoch war das Wasser im Ärmel­ka­nal recht ruhig, auch deshalb wagten nach Ansicht von Exper­ten viele Migran­ten die Überfahrt. Der franzö­si­sche Innen­mi­nis­ter Darma­ni­an sagte, 255 Menschen hätten England erreicht, 671 seien noch in Frank­reich gestoppt worden. In Frank­reich seien 580 Polizis­ten an der Küste im Einsatz gewesen.