BERLIN (dpa) — Schulen sollen im zweiten Pande­mie-Herbst möglichst geöff­net bleiben. Wie stehen angesichts der Verbrei­tung der hochan­ste­cken­den Delta-Varian­te die Chancen dafür, dass das klappt?

In immer mehr Bundes­län­dern gehen die Ferien zu Ende, die Schulen starten mit Präsenz­un­ter­richt. Wie lange kann das in der laufen­den vierten Welle mit der so anste­cken­den Delta-Varian­te gut gehen?

Bei der Einschät­zung könne ein Blick nach England helfen, sagt der Berli­ner Virolo­ge Chris­ti­an Drosten. Trotz mehrfa­cher Tests pro Woche seien die Fallzah­len dort vor allem bei Schüle­rin­nen und Schülern der 7. bis 11. Klassen nicht unter Kontrol­le geblie­ben. Wie proble­ma­tisch ist das und was könnte das für Deutsch­land bedeuten?

Ausbrei­tung an Schulen abgebremst

Eine zentra­le Frage ist, wie viele Kinder hierzu­lan­de bereits infiziert waren. «Mehr als zehn Prozent sind es nicht», schätzt Chari­té-Forscher Drosten. Ein Grund für diese Annah­me sei, dass an den Schulen bundes­weit wesent­lich stärker mit Maßnah­men und Tests auf mögli­che Übertra­gun­gen kontrol­liert wurde als etwa an vielen Arbeits­plät­zen. Die Ausbrei­tung des Corona­vi­rus wurde dadurch an den Schulen abgebremst.

Zwar habe es im Sommer recht viele Erkäl­tun­gen bei Kindern gegeben, sagt Drosten. Hoffnung auf eine überstan­de­ne Corona-Infek­tio­nen sollten sich Eltern deshalb aber nicht machen: «Die Erkran­kun­gen gingen vor allem auf norma­le bekann­te Erkäl­tungs­vi­ren zurück.» Die Ferien hätten die Lage in Sachen Corona also kaum verändert.

Es gelte, bei den Kindern den Mittel­weg zwischen rasan­ter Durch­seu­chung und strengs­ten Vermei­dungs­maß­nah­men zu finden, so der Virolo­ge. «Ein kontrol­liert schwe­len­des Gesche­hen muss man akzep­tie­ren, wenn der Schul­be­trieb laufen soll. Man wird nicht jegli­che Verbrei­tung an Schulen unter­bin­den können, aber möglichst eine unkon­trol­lier­te Ausbreitung.»

Fokus auf Lehrer und Eltern

Ganz zentral bleibe bei den Schulen das Erwach­se­nen-Umfeld. Lehrer und Eltern sollten möglichst zu 100 Prozent geimpft sein, betont Drosten. Vorstell­bar seien etwa Impfkam­pa­gnen für Eltern an den Schulen. Denn: «Natür­lich dürfen die Schulen möglichst nicht noch einmal geschlos­sen werden.»

Auch der Bremer Epide­mio­lo­ge Hajo Zeeb erklärt, es werde ein maximal hoher Impfschutz in der Erwach­se­nen-Bevöl­ke­rung gebraucht, um nicht immune Kinder zu schüt­zen. Zwar könnten Schulen darauf vertrau­en, nicht als Erstes geschlos­sen zu werden — das sei eine der Lehren aus dem Vorjahr. Aller­dings könnten Ausbrü­che natür­lich zu vorüber­ge­hen­den lokalen Schlie­ßun­gen führen. «Das könnte aufgrund von Delta gegebe­nen­falls sogar öfter vorkommen.»

Die Frank­fur­ter Virolo­gin Sandra Ciesek hält es generell für wichtig, dass sich so viele Erwach­se­ne wie möglich impfen lassen. «Das ist wichtig für den Eigen­schutz, aber eben auch, um dieje­ni­gen zu schüt­zen, die sich nicht bezie­hungs­wei­se noch nicht impfen lassen können. Dazu zählen insbe­son­de­re auch Kinder.»

Die Direk­to­rin des Insti­tuts für Medizi­ni­sche Virolo­gie am Univer­si­täts­kli­ni­kum Frank­furt weist darauf hin, dass sich beson­ders bei der Delta-Varian­te rasch sehr viele Menschen infizie­ren können. «Es wird also bei einer tolerier­ten Ausbrei­tung des Virus an den Schulen durch die große Anzahl an nicht geimpf­ten Schüle­rin­nen und Schülern fast zwangs­läu­fig auch in dieser Gruppe zu schwe­ren Verläu­fen kommen.»

Nachfra­ge nach Kinder­imp­fun­gen hoch

Unter­des­sen beobach­ten Kinder­ärz­te eine hohe Nachfra­ge nach Impfun­gen in den Praxen, seit die Ständi­ge Impfkom­mis­si­on Mitte August eine unein­ge­schränk­te Impfemp­feh­lung für Kinder und Jugend­li­che ab 12 Jahren ausge­spro­chen hat. Auf die medizi­ni­sche Empfeh­lung der Kommis­si­on hätten viele Eltern gewar­tet, hatte Jakob Maske, Sprecher des Berufs­ver­bands der Kinder- und Jugend­ärz­te, gesagt. Neben dem Gesund­heits­schutz für ihre Kinder gehe es vielen nun auch darum, mit Hilfe der Impfun­gen neue Schul­schlie­ßun­gen möglichst zu verhindern.

Ungeach­tet dessen bleiben die etablier­ten Hygie­ne- und Testkon­zep­te an den Schulen enorm wichtig, um die Ausbrei­tung des Virus unter Kontrol­le zu halten. Hier sieht Virolo­ge Drosten Nachbes­se­rungs­be­darf. «Einer­seits ist die bishe­ri­ge Dauer der Quaran­tä­ne für Schüler von Klassen, in denen Covid-19-Fälle bestä­tigt wurden, unerträg­lich lange», sagt er. Statt der gelten­den 14 Tage sollten die Schüler künftig nur fünf Tage in Quaran­tä­ne geschickt werden. Das sei ein akzep­ta­bler Zeitraum.

Zudem müsse man wegen der Impfung der Erwach­se­nen nicht mehr jede nur denkba­re Übertra­gung in den Schulen verhin­dern, so Drosten. «Die Krank­heits­last bei Schülern ohne Vorer­kran­kun­gen ist gerin­ger. Überse­he­ne Einzel­fäl­le werden durch konti­nu­ier­li­che Testung erkannt.» Es solle aber künftig nicht wie bisher mit der Quaran­tä­ne gewar­tet werden, bis ein zweiter Covid-19-Fall in der Klasse vorlie­ge. «Besser ist Quaran­tä­ne für die ganze Klasse sofort beim ersten Fall, das aber kurz.»

Drosten: Lolli-Tests keine dauer­haf­te Alternative

Um infizier­te Kinder frühzei­tig aufzu­spü­ren, ruhen einige Hoffnun­gen auf sogenann­ten Lolli-Tests: Dabei lutschen Kinder und Erwach­se­ne einer Schul­klas­se oder Kinder­gar­ten­grup­pe etwa 30 Sekun­den lang an jeweils einem Tupfer wie bei einem Lolli. Sämtli­che Tupfer werden anschlie­ßend zusam­men als eine Probe im Labor mit der zuver­läs­si­gen PCR-Metho­de unter­sucht. Ist sie positiv, müssen die Betei­lig­ten einen weite­ren Lolli-Test machen, bei dem die Proben einzeln analy­siert werden, um heraus­zu­fin­den, wer infiziert ist.

Darin sieht Drosten aller­dings keine dauer­haf­te Alter­na­ti­ve. Ab Herbst werde es wieder einen hohen Druck auf die Kapazi­tä­ten der PCR-Test-Labore aus den Klini­ken geben, wenn dort die Patien­ten­zah­len wieder stiegen. «Und Kranken­häu­ser gehen vor.» Die herkömm­li­chen Antigen-Selbst­tests werden daher aus seiner Sicht auch im Herbst und Winter der Standard bleiben.

Mit einer Entwick­lung wie in den USA, wo zur Zeit vergleichs­wei­se viele Minder­jäh­ri­ge mit Corona-Infek­ti­on in Klini­ken einge­lie­fert werden, rechnen Kinder- und Jugend­ärz­te in Deutsch­land bisher nicht. Von Anfang an habe es in den USA unter Jugend­li­chen deutlich mehr Covid-19-Todes­fäl­le gegeben als hierzu­lan­de, sagt Sprecher Maske. Die Gründe dafür ließen sich nur erahnen. Eine Rolle können Überge­wicht, Diabe­tes, aber auch bestimm­te Lebens­um­stän­de spielen. In Deutsch­land wurden vom Robert Koch-Insti­tut (RKI) seit Beginn der Pande­mie rund 20 Covid-19-Todes­fäl­le bei Menschen unter 20 Jahren regis­triert, alle hatten schwe­re chroni­sche Vorerkrankungen.

Prinzi­pi­ell scheint das kindli­che Immun­sys­tem auf die Attacken von Sars-CoV‑2 besser vorbe­rei­tet zu sein als das von Erwach­se­nen: Die Zellen der oberen Atemwe­ge befin­den sich einer Unter­su­chung zufol­ge bereits in erhöh­ter Alarm­be­reit­schaft und können das Virus im Falle einer Infek­ti­on schnell bekämp­fen, bevor es sich massiv vermehrt. Das erklärt vermut­lich, warum Kinder sehr viel selte­ner als Erwach­se­ne schwer an Covid-19 erkran­ken, wie Forschen­de aus Berlin und Heidel­berg jüngst im Fachma­ga­zin «Nature Biotech­no­lo­gy» berichteten.

Von Gisela Gross und Ulrike von Leszc­zyn­ski, dpa