BIBERACH – Insge­samt sechs berüh­rend zu lesen­de Geschich­ten über Menschen, die zur Zeit der Befrei­ung im Lager Linde­le inter­niert, teils auch inhaf­tiert waren, werden im April und Anfang Mai über Insta­gram unter dem Hashtag #geschich­ten­der­be­frei­ung zu lesen sein. Auch auf dem städti­schen Facebook-Kanal werden die Geschich­ten veröf­fent­licht. Sie erinnern an die 76. Wieder­kehr der Befrei­ung dieser über 1000 Perso­nen und mahnen gegen das Vergessen. 

Unter dem Hashtag haben die nieder­säch­si­schen Gedenk­stät­ten „Gesta­po­kel­ler und Augusta­schacht“ sowie die KZ-Gedenk­stät­te Morin­gen eine Initia­ti­ve zu einem erinne­rungs­kul­tu­rel­len Social-Media-Projekt gestar­tet und mittler­wei­le bundes­weit zur Betei­li­gung aufgerufen. 

Es sollen Geschich­ten der Befrei­ung vom Natio­nal­so­zia­lis­mus erzählt werden. Durch deren gemein­sa­me Präsen­ta­ti­on über den Hashtag wird die Sicht­bar­keit der Initia­ti­ven und Gedenk­stät­ten insge­samt erhöht. Gleich­zei­tig soll menschen- und demokra­tie­feind­li­chen Heraus­for­de­run­gen entge­gen­ge­tre­ten werden. Noch bis zum zentra­len Gedenk­tag am 8. Mai sind alle Gedenk­stät­ten und Initia­ti­ven, die an NS-Verbre­chen erinnern, zur Teilnah­me einge­la­den, Geschich­ten der Befrei­ung aus natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Lagern und Haftstät­ten zu veröf­fent­li­chen. Infol­ge dessen haben der Guern­sey-Freun­des­kreis im Verein Städte Partner Biber­ach, das Stadt­ar­chiv und das Biber­acher Kultur­amt in den gesam­mel­ten Materia­li­en und Büchern nach passen­den Geschich­ten über die Befrei­ung des Lagers Linde­le gesucht. Nachdem am 11. April bereits eine kurze Darstel­lung über die Lager­ge­schich­te veröf­fent­licht wurde, können nun nach und nach die ausge­wähl­ten Geschich­ten nachge­le­sen werden. 

So erinnert sich Stephen R. Matthews, der als sechs­jäh­ri­ger Junge mit seinen Eltern Eileen und Cecil Matthews von der Kanal­in­sel Guern­sey depor­tiert wurde, gestützt auf die Tagebuch­auf­zeich­nun­gen seiner Mutter, wie er am 23. April 1945 nach dem Einrü­cken der franzö­si­schen Befrei­er „eine wunder­ba­re Stille erleb­te, denn diese Erfah­rung war so überwäl­ti­gend“. Thomas A. Remfrey, der als sechs­jäh­ri­ger Junge 1942 ins Lager kam, ergänzt: „Am späten Nachmit­tag erschien ein franzö­si­scher Offizier in einem Stabs­wa­gen und wurde begeis­tert umringt, als er im Lager herum­fuhr. Wir waren frei!“ Marjo­rie Ashton, die am 12. April 1943 im Biber­acher Kranken­haus ihre Tochter Carole zur Welt gebracht hatte, schrieb am 14. Mai 1945 nach Hause: „Am 23. April kam es außer­halb des Camps zu Kämpfen und die Franzo­sen befrei­ten uns. Du kannst Dir unsere Freude vorstel­len. Jetzt, da wir befreit sind, können wir allein das Camp verlas­sen zu Spazier­gän­gen und Picknicks, was ein echtes Geschenk ist, nachdem wir immer nur mit Geleit ausge­hen durften. Wir können auch ein bisschen einkau­fen. Ich hoffe, wir werden bald alle von hier wegkom­men“. Marga­ret Rose berich­te­te in ihrem später erschie­ne­nen Buch „Jenseits des Stachel­drahts“: „Nervo­si­tät herrsch­te im Lager, da kleine­re Gefech­te um das Lager wahrge­nom­men wurden und die Inter­nier­ten sicher­ge­hen wollten, von den Franzo­sen als solche wahrge­nom­men zu werden. Wir hängten alles Mögli­che in Weiß auf den Stachel­draht und Tante Ol holte die Briti­sche Flagge aus meiner Matrat­ze, wo sie diesel­be versteckt hatte. Die Deutschen verschwan­den alle, und die Franzo­sen fuhren unter lautem Jubel ins Lager ein. Es war der 23. April, Sankt-Georgs-Tag, an dem wir befreit wurden. Die Nazi- Fahne wurde besei­tigt und mit Jubel­ru­fen wurden die Guern­sey-Fahne und die Engli­sche Fahne oder Sankt-Georgs-Fahne gehisst“. 

Das Lager Lindele
Das Lager Linde­le bei Biber­ach diente nach seiner Einrich­tung 1939 zunächst der Unter­brin­gung einer Kompa­nie der Deutschen Wehrmacht, anschlie­ßend nachein­an­der als Gefan­ge­nen­la­ger für franzö­si­sche und dann engli­sche Offizie­re sowie über den Winter 41/42 als Lager für russi­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne und anschlie­ßend noch serbo-kroati­sche Offizie­re. Ab Septem­ber 1942 wurden rund 1000 briti­sche Bürger von den besetz­ten Kanal­in­seln in das Lager Linde­le nahe der Stadt Biber­ach gebracht. Mit Stachel­draht und Wachtür­men gesichert, lebten die oft als Famili­en angekom­me­nen Inter­nier­ten in den Baracken des frühe­ren Kaser­nen­la­gers getrennt in Männer- und Frauen/ Kinder-Baracken. Ab Dezem­ber 1942 wurde das Lager durch die württem­ber­gi­sche Schutz­po­li­zei bewacht. Von da an erhiel­ten die Depor­tier­ten das Recht, die innere Lager­ver­wal­tung selbst zu organi­sie­ren und einen Lager­füh­rer zu wählen, der den Kontakt zur deutschen Lager­ver­wal­tung hielt. Ab Dezem­ber 1942 bekam das Lager Hilfs­lie­fe­run­gen vom Inter­na­tio­na­len Roten Kreuz, ab Mai 1943 waren bewach­te Spazier­gän­ge außer­halb des Lagers möglich, einige Inter­nier­te halfen in Biber­acher Gärten aus. Es ist ein histo­ri­scher Glücks­fall, dass zwischen einigen unschul­dig von den Kanal­in­seln Depor­tier­ten und Biber­acher Famili­en Freund­schaf­ten entstan­den. Im Novem­ber 1944 trafen zwei Zugtrans­por­te mit Juden aus Bergen-Belsen ein – Menschen in einem oft schockie­ren­den Gesund­heits­zu­stand. Ein Teil dieser Menschen blieb im Lager Linde­le. Am 23. April 1945 wurde das Lager von der franzö­si­schen gaullis­ti­schen Armee befreit.