HALLE/POTSDAM (dpa) — Für Likes in sozia­len Netzwer­ken riskie­ren manche viel. Sogar ihr eigenes Leben. Bahn und Polizei werden nicht müde, vor der Gefahr zu warnen, auf Eisen­bahn­wag­gons herumzuklettern.

Für ein Selfie mitten in der Nacht riskie­ren die zwei jungen Männer ihr Leben. Sie klettern in der Nähe von Kaisers­lau­tern auf einen Güter­wag­gon. Als sich einer von ihnen oben aufrich­tet, kommt er vermut­lich mit dem Arm in die Oberlei­tung und erlei­det einen hefti­gen Strom­schlag. So berich­tet es die Bundes­po­li­zei im Sommer nach der Befra­gung von Zeugen. Der 17-Jähri­ge wird vom Waggon geschleu­dert und bleibt regungs­los am Boden liegen. Rettungs­kräf­te reani­mie­ren ihn. Er ist schwer verletzt.

Solche Unfäl­le sind längst kein Einzel­fall in Deutsch­land. Fast jeden Monat verun­glü­cken Kinder, Jugend­li­che und Heran­wach­sen­de, aber auch Erwach­se­ne, weil sie einer Oberlei­tung zu nahe gekom­men sind, wie eine Spreche­rin der Bundes­po­li­zei in Potsdam sagt. «Ursäch­lich für diese Unfäl­le sind meist das Klettern auf Güter­wa­gen und auf Strom­mas­ten oder das S‑Bahn-Surfen.» Die Bundes­po­li­zei führt einen «überwie­gen­den Teil der Unfäl­le» darauf zurück, dass jemand ein Selfie von sich oder ein Foto auf einem Eisen­bahn­wag­gon machen wollte — teils wegen einer Mutpro­be oder schlicht aus Leichtsinn.

«Fast alle Unfäl­le endeten mit schwers­ten Verlet­zun­gen oder tödlich», sagt die Spreche­rin. Adrian hat bei einem solchen Unglück seinen Freund verlo­ren. Die beiden Jugend­li­chen kletter­ten 2019 im Landkreis Deggen­dorf in Bayern auf einen Güter­wag­gon. Dann der Strom­schlag. Adrian überleb­te schwer verletzt. «Ich weiß nicht, wie es zu dem Unfall gekom­men ist. Der Tag ist weg», sagte er ein Jahr danach dem Bayeri­schen Rundfunk noch sicht­lich bewegt. Er musste erst wieder gehen lernen. «Auf der Inten­siv­sta­ti­on wollte ich immer aufgeben.»

Ein Zaun ist keine Lösung

Wie lassen sich solche Unglü­cke verhin­dern? Einen Zaun um alle Bahn-Anlagen zu setzen, ist aus Sicht der Bahn wegen der vielen Bahnhö­fe und des riesi­gen Gleis­net­zes von der Nordsee bis zu den Alpen schlicht­weg nicht möglich. Angehö­ri­ge verun­glück­ter Kinder und Jugend­li­cher fordern genau das schon länger und geben sich nicht mit Warnschil­dern und Plaka­ten zufrie­den. Eine Bahn-Spreche­rin stellt aber klar: «Es ist verbo­ten, Bahnan­la­gen zu betreten.»

Bahn und Bundes­po­li­zei sehen haupt­säch­lich einen Weg, damit weniger Menschen ihr Leben verlie­ren oder schwe­re Schäden ihrer Gesund­heit davon­tra­gen: Aufklä­rung. «Seit April letzten Jahres haben wir unsere Aufklä­rungs­an­stren­gun­gen noch einmal verstärkt», sagt die Bahnspre­che­rin. Sechs Präven­ti­ons­teams seien bundes­weit an Bahnhö­fen, Gleis­an­la­gen, in Schulen und Kinder­gär­ten unter­wegs. «Das gemein­sa­me Ziel ist es, durch frühzei­ti­ge Infor­ma­ti­on Unfäl­le zu verhindern.»

An einem verreg­ne­ten Septem­ber-Tag stehen die Schüler einer sechs­ten Klasse der Sekun­dar­schu­le in Gröbers in Sachsen-Anhalt an Gleis 8 des Haupt­bahn­hofs in Halle. Viele der Zwölf­jäh­ri­gen seien auf dem Schul­weg auf die Bahn angewie­sen, sagt Lehre­rin Maxi Klupsch. Basti­an Peter ist einer der Präven­ti­ons­be­auf­trag­ten der Bahn. Er erklärt den Schülern die Gefah­ren der Strom­lei­tun­gen und Gleis­an­la­gen, als der ICE 703 einfährt. Es geht gerade um die Sogwir­kung fahren­der Züge.

Gefahr immer wieder unterschätzt

Viele Jugend­li­che unter­schät­zen laut Peter die Gefahr durch Selfies auf Gleisen oder an vorbei­ra­sen­den Zügen sowie das Klettern auf stehen­den Waggons. «Durch die Strom­lei­tun­gen fließen bis zu 15.000 Volt. Da muss man nicht mal die Leitun­gen berüh­ren, um einen Schlag zu bekom­men mit lebens­ge­fähr­li­chen Folgen», warnt der 34-Jährige.

«Das sind 65 Mal mehr als in der Steck­do­se zu Hause», sagt auch die Spreche­rin der Bundes­po­li­zei in Potsdam. Strom­schlä­ge passier­ten schon, wenn der Mindest­ab­stand von 1,50 Meter nicht einge­hal­ten werde. «Strom ist in der Lage, die Luft zu übersprin­gen und auf einem Licht­bo­gen über den Körper zur Erde zu gelan­gen», warnt die Bundes­po­li­zei in einem Flyer. Der mensch­li­che Körper, der zu zwei Dritteln aus Wasser bestehe, sei dann der «leiten­de Gegenstand».

«Wer also glaubt, das Klettern auf Bahn-Waggons sei cool und ungefähr­lich, der irrt gewal­tig», heißt es. Und dennoch wird die Gefahr «in den meisten Fällen aus Unkennt­nis oftmals völlig unter­schätzt», räumt die Spreche­rin ein. Die Polizei weiß nur zu gut, dass Bahnan­la­gen und Eisen­bahn­wag­gons «verlo­cken­de Aufent­halts­or­te» sind. Griff­be­reit ist das Handy. Es wird ein Selfie gemacht, das in sozia­len Netzwer­ken wie Insta­gram hochge­la­den wird.

Gefahr der Nachahmung

Dafür gibt es in der Regel viele Likes. «Dieje­ni­gen genie­ßen dann mehr Ansehen», sagt der Medien­psy­cho­lo­ge Frank Schwab von der Uni Würzburg. Weil viele übers Handy Zeuge dieser waghal­si­gen Aktio­nen werden, führe das zu einem Status­ge­winn. Ein höheres Ansehen ist dem Fachmann zufol­ge auf diese Weise leich­ter zu errei­chen als wenn jemand etwa vor der Schul­klas­se mit einem Streich auf sich aufmerk­sam macht. «Gab es früher 10 positi­ve Feedbacks, sind es nun 10.000.»

Doch mit Fotos und Selfies an der Leiter eines Kessel­wa­gens gefähr­den Kinder und Jugend­li­che nach Schwabs Auffas­sung nicht nur sich selbst: «Das führt dazu, dass die Idee Nachah­mer findet.» Gegen­steu­ern könnten aber Freun­de und Bekann­te, wenn «andere die Selbst­in­sze­nie­rung uncool finden und eine andere Haltung einnehmen».

In drei Viertel aller Fälle seien es Männer, die das Risiko auf sich nehmen. «Männer haben eine einge­trüb­te Risiko­wahr­neh­mung», sagt Schwab. Das begin­ne mit der Puber­tät und ende mit Gründung einer Familie, was sich dann auch auf den Testo­ste­ron­wert auswirke.

In Halle lauscht der zwölf­jäh­ri­ge Paul den Ausfüh­run­gen des Bahn-Präven­ti­ons­exper­ten. Seine Eltern hätten ihm schon viel beigebracht, sagt er. Einige seiner Freun­de seien bereits über die Gleise gelau­fen. «Denen werde ich erzäh­len, wie gefähr­lich das ist.»

Von Chris­ti­an Thiele und André Jahnke, dpa