FRANKFURT/BERLIN (dpa) — Die steigen­den Preise machen vielen Menschen zu schaf­fen. Banken­prä­si­dent Chris­ti­an Sewing warnt vor einer Spaltung der Gesell­schaft. Es sei gut, dass die Infla­ti­on endlich entschlos­sen bekämpft werde.

Die Rekord-Infla­ti­on birgt nach Ansicht von Banken­prä­si­dent Chris­ti­an Sewing erheb­li­chen sozia­len Spreng­stoff. «Hohe Infla­ti­ons­ra­ten und negati­ve Realzin­sen sind ein Spalt­pilz für die Gesellschaft.

Wenn ein hoher Prozent­satz der berufs­tä­ti­gen Famili­en sagen, sie können aufgrund der gestie­ge­nen Preise am Ende des Monats nichts mehr sparen, dann führt das auf Dauer zu gesell­schaft­li­cher Unruhe», sagte der Deutsche-Bank-Chef in seiner Rolle als Präsi­dent des Bundes­ver­ban­des deutscher Banken (BdB) im Gespräch mit der Nachrich­ten­agen­tur dpa. «Deshalb ist es so wichtig, dass die Infla­ti­on so schnell wie möglich wieder in einen Bereich kommt, der die Bürger nicht verun­si­chert. Und dass Sparer mit positi­ven Realzin­sen dafür belohnt werden, dass sie fürs Alter vorsor­gen. Dieses Thema macht mir zurzeit am meisten Sorge.»

Kräfti­ge Preis­stei­ge­run­gen für Energie und Lebens­mit­tel hatten die Teuerungs­ra­te in Deutsch­land im Mai auf 7,9 Prozent und damit auf den höchs­ten Stand seit fast 50 Jahren getrie­ben. Die erste Schät­zung für den Monat Juni will das Statis­ti­sche Bundes­amt an diesem Mittwoch (29.6.) veröf­fent­li­chen. Die Bundes­bank erwar­tet für das Gesamt­jahr in Deutsch­land eine Teuerungs­ra­te von 7,1 Prozent gemes­sen am harmo­ni­sier­ten Verbrau­cher­preis­in­dex (HVPI), den die Europäi­sche Zentral­bank (EZB) für ihre Geldpo­li­tik heranzieht.

Waren­kör­be verteu­ern sich unterschiedlich

Famili­en mit niedri­gem Einkom­men leiden einer Analy­se zufol­ge am meisten unter der hohen Teuerung. Während sich die Waren­kör­be für die deutschen Haushal­te insge­samt in den vergan­ge­nen zwölf Monaten im Schnitt um 7,9 Prozent verteu­er­ten, mussten Famili­en mit niedri­gem Einkom­men für ihre typischen Einkäu­fe sogar 8,9 Prozent mehr zahlen. Zu diesem Ergeb­nis kommt das Insti­tut für Makro­öko­no­mie und Konjunk­tur­for­schung (IMK) der gewerk­schafts­na­hen Hans-Böckler-Stiftung in seinem Infla­ti­ons­mo­ni­tor für den Monat Mai.

Die Bundes­re­gie­rung versucht, die Menschen unter anderem durch einen befris­te­ten Tankra­batt und ein 9‑Euro-Ticket für den Öffent­li­chen Perso­nen­nah­ver­kehr (ÖPNV) zu entlas­ten. Bundes­fi­nanz­mi­nis­ter Chris­ti­an Lindner (FDP) dämpf­te Erwar­tun­gen, dass es dafür im Septem­ber Anschluss­re­geln geben könnte. «Wir können nicht auf Dauer gestie­ge­ne Preise für das impor­tier­te Öl, die Entwick­lung des Dollar und die Knapp­hei­ten bei Raffi­ne­rien mit Staats­geld ausglei­chen», sagte Lindner der Deutschen Presse-Agentur.

«Es spricht vieles dafür, dass wir den Höhepunkt der Infla­ti­on im Herbst sehen könnten», sagte BdB-Präsi­dent Sewing. «Aber grund­sätz­lich wird uns die Infla­ti­on länger beglei­ten und trotz der nun angekün­dig­ten Zinsmaß­nah­men nicht in den nächs­ten zwölf Monaten verschwinden.»

Hebt die EZB den Leitzins an?

Die Europäi­sche Zentral­bank (EZB), die für den Euroraum mittel­fris­tig stabi­le Preise bei einer jährli­chen Teuerungs­ra­te von zwei Prozent anstrebt, will bei ihrer nächs­ten regulä­ren Sitzung am 21. Juli die Leitzin­sen im Euroraum um jeweils 0,25 Prozent­punk­te anheben. Es wäre die erste Zinser­hö­hung seit elf Jahren.

«Es ist gut, dass die EZB den Schritt gegan­gen ist und klare Ankün­di­gun­gen gemacht hat», sagte Sewing. Das sei das richti­ge Signal. «Ich habe immer gesagt, dass ich mir einen solchen Zinsschritt etwas früher gewünscht hätte, aber jetzt sind wir auf dem richti­gen Weg und nun sollten wir die EZB darin unter­stüt­zen, diese Politik auch durchzuhalten.»

Die Gefahr einer neuen europäi­schen Schul­den­kri­se sehe er kurzfris­tig nicht, sagte Sewing. «Wir stehen ganz anders da als vor zehn Jahren, wir haben ganz andere Instru­men­te zur Hand. Auch die Situa­ti­on der Banken ist heute viel besser als noch vor zehn Jahren, vor der ersten Euro-Krise.»

Die angekün­dig­te Zinser­hö­hung könnte vor allem für hochver­schul­de­te Staaten in Südeu­ro­pa zur Belas­tung werden. Die EZB hat daher bereits angekün­digt, sie arbei­te an einem neuen Anti-Krisen­in­stru­ment. Wichtig sei, dass mögli­che neue Hilfen für einzel­ne Staaten mit Struk­tur­re­for­men verbun­den würden, mahnte Sewing. «Die Länder müssen die Ursachen für die hohe Staats­ver­schul­dung angehen. Denn eins ist klar: Der Markt schaut auf die Höhe der Verschul­dung eines Landes, und diese Verschul­dung darf nicht ausufern.»

Appell an die Gewerkschaften

An die Gewerk­schaf­ten im Inland appel­lier­te Sewing, in den anste­hen­den Tarif­run­den mit Lohnfor­de­run­gen verant­wor­tungs­be­wusst umzuge­hen. «Natür­lich kann ich die Gewerk­schaf­ten und Betriebs­rä­te verste­hen, die sagen: Wir haben hier einen Aufhol­be­darf. Auf der anderen Seite wäre es kurzfris­tig gedacht, die Forde­rung so weit nach oben zu schrau­ben, dass die Unter­neh­men nicht mehr hinter­her­kom­men», argumen­tier­te Sewing.

Die IG Metall will angesichts rekord­ver­däch­ti­ger Infla­ti­on ein deutli­ches Lohnplus für die rund 3,9 Millio­nen Beschäf­tig­ten in der Metall- und Elektro­in­dus­trie in Deutsch­land errei­chen. Der Vorstand der größten deutschen Einzel­ge­werk­schaft empfahl eine Forde­rung von sieben bis acht Prozent mehr Geld. Exper­ten sehen die Gefahr, dass zu stark steigen­de Löhne die Preise weiter nach oben treiben könnten, weil Unter­neh­men gestie­ge­ne Löhne als Recht­fer­ti­gung für weite­re Preis­er­hö­hun­gen heran­zie­hen. Löhne und Preise schau­keln sich dann gegen­sei­tig hoch, eine Lohn-Preis-Spira­le könnte in Gang kommen. «Das Grund­pro­blem ist die hohe Infla­ti­on», beton­te Sewing. «Sie muss so schnell wie möglich herun­ter­ge­führt werden.»

Bankkun­den dürfen zumin­dest auf ein Ende der Negativ­zin­sen auf dem Konto hoffen. «Wir haben seit 2014 Negativ­zin­sen im Euroraum. Die meisten Banken haben sehr, sehr lange gewar­tet, bis sie Negativ­zin­sen in der Breite an ihre Kunden weiter­ge­ge­ben haben», bilan­zier­te Sewing. «Natür­lich wird die Branche ihre Kondi­tio­nen auch wieder anpas­sen, wenn die EZB keine negati­ven Einla­gen­zin­sen mehr erhebt.»

Auf die Frage, warum die Branche nicht in einer konzer­tier­ten Aktion schon jetzt die von vielen Bankkun­den als Straf­zin­sen empfun­de­nen sogenann­ten Verwah­rent­gel­te abschaf­fe, sagte Sewing, über konkre­te Kondi­tio­nen müsse jedes Insti­tut für sich entschei­den. Der BdB-Präsi­dent beton­te: «Wir haben über Jahre hinweg Negativ­zin­sen gesehen, und in den meisten dieser Jahre wurden die Negativ­zin­sen nicht in der Breite an Privat­kun­den weiter­ge­ge­ben. Deshalb sollte man den Schwar­zen Peter nicht den Banken in die Schuhe schieben.»

Inter­view: Jörn Bender, Steffen Weyer und Andre­as Hoenig, dpa