BERLIN (dpa) — Die Fallzah­len gehen steil nach oben — und die Regie­rung will die meisten bundes­wei­ten Aufla­gen in wenigen Tagen fallen­las­sen. Auch eine Mehrheit für eine Impfpflicht ist kurz vor der ersten Beratung ungewiss.

Eine Woche vor der geplan­ten Aufhe­bung der meisten bundes­wei­ten Corona-Aufla­gen lässt die rasan­te Ausbrei­tung des Virus Zweifel an den Locke­run­gen wachsen.

Deutsch­land hätte dann keine echten Schutz­maß­nah­men mehr, kriti­sier­te Bayerns Minis­ter­prä­si­dent Markus Söder (CSU). Medizi­ner warnten vor dem geplan­ten Wegfall der Masken­pflicht in den meisten Innen­räu­men. Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lauter­bach (SPD) forder­te die Länder erneut auf, die geplan­te Möglich­keit zu nutzen, selbst Schutz­maß­nah­men zu ergrei­fen. Die Inzidenz überschritt am Sonntag die 1500er-Schwel­le und erreich­te 1526,8 Neuin­fek­tio­nen pro 100.000 Einwoh­ner und Woche. Binnen eines Tages gab es 146.607 Corona-Neuinfektionen.

Bund und Länder wollen in dieser Woche entschei­den­de Weichen für den Corona­kurs ab dem Frühlings­an­fang am kommen­den Sonntag stellen. So sollen am Mittwoch erstmals im Bundes­tag Änderun­gen am Infek­ti­ons­schutz­ge­setz beraten werden; die meisten bundes­wei­ten Corona-Aufla­gen sollen zum 20. März entfal­len. Bereits zwei Tage später soll im Plenum über den umstrit­te­nen Entwurf von Lauter­bach und Justiz­mi­nis­ter Marco Busch­mann (FDP) entschie­den werden. Lauter­bach und Busch­mann schla­gen einen deutlich verrin­ger­ten Basis­schutz für ganz Deutsch­land vor. Die Länder sollen aber weite­re Corona-Aufla­gen für jeweils auszu­ru­fen­de Hotspots beschlie­ßen können.

In einer Minis­ter­prä­si­den­ten­kon­fe­renz wollen die Länder mit Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Donners­tag die Lage beraten. Ebenfalls an dem Tag wird im Bundes­tag erstmals über Anträ­ge zu einer allge­mei­nen Impfpflicht beraten. Zudem soll künftig ein gerin­ge­rer Corona-Arbeits­schutz gelten. Dazu will das Kabinett am Mittwoch eine Verord­nung des Sozial­mi­nis­te­ri­ums beschlie­ßen. Künftig sollen die Arbeit­ge­ber weitge­hend selbst bestim­men können, wie sie das Risiko einschät­zen und welche Aufla­gen im Betrieb noch gelten sollen.

Streit um das Infektionsschutzgesetz

Söder kriti­sier­te in der «Bild am Sonntag», der Entwurf von Lauter­bach und Busch­mann zum Infek­ti­ons­schutz­ge­setz habe echte Lücken und Schwä­chen. «Damit stehen wir im Herbst neuen Mutatio­nen schutz- und wehrlos gegen­über.» So könne das geplan­te weitge­hen­de Weglas­sen der Maske in der Schule rasch zur sogenann­ten Durch­seu­chung führen. Auch die Minis­ter­prä­si­den­ten von Baden-Württem­berg und Nieder­sach­sen hatten die Pläne kritisiert.

Bundes­weit möglich sein sollen nach dem Lauter­bach-Busch­mann-Entwurf nur noch Masken­pflich­ten in Pflege­hei­men, Klini­ken und Nahver­kehr — und Testpflich­ten in Heimen und Schulen. Bundes­weit bleiben soll auch die Masken­pflicht in Zug und Flugzeug.

Besorgt zeigten sich auch Medizi­ner. Der Präsi­dent der Inten­siv­me­di­zi­ner-Verei­ni­gung Divi, Gernot Marx, nannte es in den Zeitun­gen der Funke Medien­grup­pe einen Fehler, das Mittel der Masken­pflicht ohne Not aus der Hand zu geben. Der Vorsit­zen­de der Deutschen Kranken­haus­ge­sell­schaft, Gerald Gaß, warnte in den Zeitun­gen des Redak­ti­ons­netz­werks Deutsch­land, dass immer mehr Klinik-Beschäf­tig­te wegen Krank­heit oder Quaran­tä­ne ausfielen.

Lauter­bach vertei­dig­te den Entwurf erneut als Weg zu «mehr Rechts­si­cher­heit». Wo die Inzidenz stark steige oder die medizi­ni­sche Versor­gung gefähr­det sei, könnten die Länder Instru­men­te wie Masken, Abstand, Vorga­ben für Tests und Hygie­ne­kon­zep­te nutzen, sagte er dem «Münch­ner Merkur» (Montag). «Es wäre traurig, wenn wir jetzt statt­des­sen über Wochen hohe Fallzah­len und 200 bis 300 Tote am Tag in Kauf nehmen würden.»

Der Deutsche Gewerk­schafts­bund (DGB) forder­te größe­ren Corona-Schutz in den Betrie­ben als derzeit von der Regie­rung geplant. DGB-Vorstands­mit­glied Anja Piel sprach sich in den Zeitun­gen der Funke Medien­grup­pe weiter für Homeof­fice wo möglich, Masken­tra­gen in Innen­räu­men und regel­mä­ßi­ge Tests für die Beschäf­tig­ten, aus.

Die erste Impfpflicht startet

Lauter­bach verwies auf die im europäi­schen Vergleich aktuell beson­ders starke Corona-Ausbrei­tung in Deutsch­land. Dies liege an der Tatsa­che, dass rund 25 Prozent der Bevöl­ke­rung ungeimpft sei. Die Millio­nen Ungeimpf­ten infizier­ten sich viel häufi­ger und seien teils hochan­ste­ckend unter­wegs. Freihei­ten wie wieder in England, Spani­en oder Itali­en seien daher in Deutsch­land nicht möglich.

Vor der ersten Beratung über eine mögli­che allge­mei­ne Impfpflicht im Bundes­tag warb Lauter­bach dafür, zwei vorlie­gen­de Anträ­ge pro Impfpflicht zu bündeln. «Es ist nicht sinnvoll, sich als Impfpflicht­be­für­wor­ter gegen­sei­tig die Stimmen wegzu­neh­men.» Es geht um einen Antrag für eine solche Pflicht ab 18 Jahren und einen für eine Impfpflicht ab 50 unter Vorbe­halt einer Bewer­tung im Herbst. Der Mitin­itia­tor dieses zweiten Antrags, der FDP-Abgeord­ne­te Andrew Ullmann, sagte der «Bild am Sonntag», der eigene Antrag könnte eine Brücke sein.

Zugleich sagte Ullmann: «Idealer­wei­se brauchen wir die Impfpflicht im Herbst nicht mehr.» Lauter­bach sagte hinge­gen: «Wie es im
Herbst aussieht, liegt allein daran, ob wir die allge­mei­ne Impfpflicht einfüh­ren. (…) Schaf­fen wir es nicht, stehen wir vor einer Situa­ti­on wie jetzt — oder einer sogar noch schlechteren.»

Bereits in der neuen Woche startet in Deutsch­land die sogenann­te einrich­tungs­be­zo­ge­ne Corona-Impfpflicht. Beschäf­tig­te in Pflege­hei­men und Klini­ken müssen bis Diens­tag Nachwei­se als Geimpf­te oder Genese­ne vorle­gen — oder ein Attest, dass sie nicht geimpft werden können. Arbeit­ge­ber müssen die Gesund­heits­äm­ter infor­mie­ren, wenn das nicht geschieht. Diese können die Beschäf­ti­gung dort dann unter­sa­gen, haben aber Ermes­sens­spiel­raum. Sie können mehrstu­fi­ge Verfah­ren nutzen, so dass ungeimpf­ten Kräften nicht unmit­tel­bar ein Verlust der Stelle droht.

Von Basil Wegener, dpa