BERLIN (dpa) — Exper­ten blicken mit Sorge auf die befürch­te­te Omikron-Welle. Auch die allge­mei­ne Impfpflicht wird wieder disku­tiert. SPD-Chef Kling­beil sagt: Politik müsse «dazuler­nen» dürfen.

An einer allge­mei­nen Corona-Impfpflicht wird Deutsch­land nach Ansicht von Spitzen­po­li­ti­kern verschie­de­ner Partei­en voraus­sicht­lich nicht herumkommen.

SPD-Chef Lars Kling­beil sagte dem Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land (Donners­tag), würde die Impfquo­te von derzeit 70 Prozent in Deutsch­land schlag­ar­tig auf 95 Prozent steigen, wäre eine Pflicht nicht nötig. «Das sehe ich aktuell aber nicht.» Der nordrhein-westfä­li­sche Minis­ter­prä­si­dent Hendrik Wüst (CDU) nannte eine Impfpflicht in den ARD-Tages­the­men «unerläss­lich». Berlins Regie­ren­de Bürger­meis­te­rin Franzis­ka Giffey bezeich­ne­te sie bei RTL/ntv als «logische Schlussfolgerung».

Die Corona-Zahlen in Deutsch­land sinken zwar zunächst weiter. Exper­ten befürch­ten wegen der anste­cken­de­ren Omikron-Varian­te aber eine baldi­ge Trend­um­kehr. Über die anste­hen­den Feier­ta­ge wird zudem mit wenig aussa­ge­kräf­ti­gen Corona-Daten gerechnet.

Kritik auch an sich selbst

Kling­beil bezeich­ne­te es als einen Fehler, eine Impfpflicht zuerst ausge­schlos­sen zu haben. «Auch ich persön­lich habe das getan.» Er habe geglaubt, dass sich sehr viel mehr Menschen impfen lassen würden, als es bis heute tatsäch­lich der Fall sei. «Ich habe deshalb immer sehr überzeugt gesagt, es wird keine Impfpflicht kommen. Das war ein Fehler. Aber ich finde es wichtig, dass Politik auch dazuler­nen darf.»

NRW-Minis­ter­prä­si­dent Wüst sagte, eine «Dauer­schlei­fe» von Locke­run­gen und Lockdowns müsse vermie­den werden. «Da müssen wir raus. Deswe­gen ist die Impfpflicht unerläss­lich.» Giffey nannte eine Impfpflicht grund­sätz­lich das «aller­letz­te Mittel». Aber ab dem Punkt, an dem der gesam­te Gesund­heits­schutz der Bevöl­ke­rung sowie die kriti­sche Infra­struk­tur gefähr­det seien, müsse man in der Abwägung diese Pflicht auch einge­hen. «Deswe­gen ist es jetzt eine logische Schluss­fol­ge­rung, das zu tun.»

Am Mittwoch hatte der Ethik­rat sich dafür ausge­spro­chen, die schon für Beschäf­tig­te in Klini­ken oder Pflege­hei­men beschlos­se­ne Impfpflicht auf «wesent­li­che Teile der Bevöl­ke­rung» auszu­wei­ten. Angedacht ist, dass der Bundes­tag ohne Frakti­ons­zwang über eine mögli­che Einfüh­rung abstimmt. Wann das passiert, ist weiter offen. Unklar ist auch noch die Ausge­stal­tung: Denkbar wäre etwa, dass eine Pflicht für alle Erwach­se­nen kommt oder auch nur für bestimm­te Risiko- und Alters­grup­pen. Erwar­tet wird, dass sich Parla­men­ta­ri­er über Partei­gren­zen hinweg zusam­men­tun und entspre­chen­de sogenann­te Gruppen­an­trä­ge vorle­gen, über die dann abgestimmt wird.

Frage der Verhältnismäßigkeit

Bundes­bil­dungs­mi­nis­te­rin Betti­na Stark-Watzin­ger (FDP) sagte den Zeitun­gen der Funke-Medien­grup­pe zur Frage, wie ein solcher Antrag gestal­tet sein müsse, damit sie zustim­me. Er müsse verhält­nis­mä­ßig sein. «Es muss etwa Klarheit herrschen, ob wir mit dieser Form der Impfpflicht die Krise nachhal­tig bekämp­fen können. Meine persön­li­che Tendenz geht zu einer parti­el­len Impfpflicht.»

Die bundes­wei­te Sieben-Tage-Inzidenz gab das Robert Koch-Insti­tut am Donners­tag mit 280,3 an, nach 289 am Vortag. Die Gesund­heits­äm­ter übermit­tel­ten 44 927 Neuin­fek­tio­nen. Vor genau einer Woche waren es 56 677. Die Zahl geht seit rund drei Wochen zurück. Bei der Beurtei­lung der Lage droht Deutsch­land nun aber Ungewiss­heit bis ins neue Jahr hinein. Die Verbands­che­fin der Amtsärz­te, Ute Teichert, geht davon aus, dass es über die Feier­ta­ge und zwischen den Jahren bei den offizi­ell gemel­de­ten Corona-Zahlen zu einer Unter­er­fas­sung kommen könnte. «Verläss­lich dürften die Zahlen erst wieder Anfang Januar sein.»

Große, schnel­le Welle steht vor der Tür

Paral­lel dazu dürfte sich die befürch­te­te Omikron-Welle aufbau­en: «Eine große, schnel­le Welle haben wir noch nicht. Das wird sich ändern zum Jahres­wech­sel und in der ersten Januar-Woche», sagte Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lauter­bach (SPD) am Donners­tag bei WDR 2. In Großbri­tan­ni­en haben die tägli­chen Zahlen inzwi­schen die 100 000er-Marke überschrit­ten. Die Omikron-Varian­te überträgt sich nach Exper­ten­ein­schät­zung deutlich schnel­ler als bishe­ri­ge Varian­ten des Coronavirus.

Studi­en aus Südafri­ka und Großbri­tan­ni­en deuten inzwi­schen zwar darauf hin, dass Omikron weniger krank machen könnte als die Delta-Varian­te des Corona­vi­rus. Exper­ten raten aber davon ab, vorschnel­le Schlüs­se zu ziehen und verwei­sen auf Unter­schie­de zwischen Südafri­ka und Deutsch­land, etwa beim Alters­durch­schnitt der Bevöl­ke­rung. Der Vorstands­vor­sit­zen­de des Weltärz­te­bunds, Frank Ulrich Montgo­me­ry, sagte am Donners­tag dem Nachrich­ten­sen­der Welt, wenn sich die briti­schen Zahlen bestä­ti­gen ließen, sei das ein Hoffnungs­schim­mer aber «überhaupt keine Entwarnung».

Selbst bei einem milde­ren Verlauf werden durch die erwar­tet hohen Anste­ckungs­zah­len Belas­tun­gen des Gesund­heits­sys­tems und von wichti­gen Berei­chen der Infra­struk­tur befürch­tet, weil viele Beschäf­tig­te wegen einer Infek­ti­on und Quaran­tä­ne­a­n­ord­nun­gen ausfal­len könnten.