BRÜSSEL/VILNIUS (dpa) — In den Streit um den Beitritt Schwe­dens zur Nato ist Bewegung gekom­men. Der türki­sche Präsi­dent Erdogan gibt offen­bar seine Blocka­de­hal­tung auf. Es ist ein Schritt nach vorn — aber kein verbindlicher.

Nato-General­se­kre­tär Jens Stolten­berg sieht die Nato mit dem Ende der türki­schen Blocka­de gegen den Beitritt Schwe­dens insge­samt gestärkt. Die mit Präsi­dent Recep Tayyip Erdogan am Vorabend getrof­fe­ne Überein­kunft stärke die Vertei­di­gung des Bündnis­ses deutlich und sei auch im Inter­es­se der Türkei selbst, sagt Stolten­berg am Morgen in Vilni­us vor dem offizi­el­len Beginn des Nato-Gipfels. Er sei «absolut überzeugt», dass die Türkei das Beitritts­pro­to­koll für Schwe­den nun ratifi­zie­ren werde und das Haupt­pro­blem gelöst sei, sagte er. «Dieser Gipfel ist bereits histo­risch bevor er begon­nen hat», so Stoltenberg.

Erdogan hatte am Vorabend seine Blocka­de eines Beitritts von Schwe­den aufge­ge­ben und will nach Angaben der Nato dem türki­schen Parla­ment das Beitritts­pro­to­koll zur Entschei­dung vorlegen.

Die Abstim­mung in der Großen Natio­nal­ver­samm­lung der Türkei gilt als Formsa­che. Erdogans islamisch-konser­va­ti­ve AKP hat im Bündnis mit den Ultra­na­tio­na­lis­ten im Parla­ment eine komfor­ta­ble Mehrheit.

Mit Beratun­gen über die weite­re Unter­stüt­zung der Ukrai­ne und den Ausbau der Abschre­ckung und Vertei­di­gung gegen Russland beginnt der zweitä­gi­ge Nato-Gipfel heute in Litau­en. Stolten­berg will, dass von dem Spitzen­tref­fen ein klares Signal an Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin ausgeht. Dieser muss nach Auffas­sung des Norwe­gers einse­hen, dass der Krieg gegen die Ukrai­ne zum Schei­tern verur­teilt ist und jede Aggres­si­on gegen einen Nato-Staat eine entschlos­se­ne Reakti­on des gesam­ten Bündnis­ses zur Folge hätte.

«Das ist ein guter Tag für Schwe­den gewesen»

Der Streit um Schwe­dens Nato-Mitglied­schaft drohte das Treffen in Vilni­us zu überschat­ten. Entspre­chend groß war die Erleich­te­rung, nachdem Erdogan seine Blocka­de­hal­tung aufge­ge­ben hatte. Schwe­dens Minis­ter­prä­si­dent Krist­ers­son sagte: «Das ist ein guter Tag für Schwe­den gewesen.» US-Präsi­dent Joe Biden begrüß­te die Entschei­dung der Türkei und sagte, er freue sich darauf, Schwe­den als 32. Nato-Mitglied willkom­men zu heißen. EU-Kommis­si­ons­prä­si­den­tin Ursula von der Leyen bezeich­ne­te die Einigung auf Twitter als «histo­ri­schen Schritt».

Nato-General­se­kre­tär Stolten­berg verwies auf mehre­re Schrit­te, die Schwe­den vollzo­gen hatte, darun­ter Änderun­gen an der Verfas­sung und an Geset­zen, eine Auswei­tung von Anti-Terror-Koope­ra­tio­nen gegen die kurdi­sche PKK und die Wieder­auf­nah­me von Waffen­ex­por­ten in die Türkei. Beide Staaten wollen künftig bilate­ral über Sicher­heit sprechen. Die Nato werde zudem erstmals den Posten eines Sonder­ko­or­di­na­tors für Anti-Terror-Aufga­ben bekom­men, so Stolten­berg. Einer Antwort auf die Frage, wann der Nato-Betritt Schwe­dens vollzo­gen sein könnte, wich er aus.

Erdogan brüskiert Nato-Partner mit Forderung

Überra­schend hatte Erdogan kurz vor dem Gipfel­start die Zustim­mung seines Landes zur Aufnah­me Schwe­dens in die Nato zunächst davon abhän­gig gemacht, dass der vor Jahren auf Eis geleg­te EU-Beitritts­pro­zess für die Türkei wieder aufge­nom­men wird. Proble­ma­tisch ist dies, weil die EU der Türkei seit Jahren vorwirft, demokra­ti­sche und rechts­staat­li­che Standards nicht zu erfül­len. Eine Aufnah­me der Türkei gilt deswe­gen auf Jahre hinaus als illuso­risch. Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) sprach sich klar gegen eine Verknüp­fung des Nato-Beitritts Schwe­dens mit dem EU-Beitritts­pro­zess der Türkei aus. Beide Fragen hingen nicht mitein­an­der zusammen.

Noch keine Entschei­dung über die Beitritts­per­spek­ti­ve der Ukraine

Deutsch­land erteil­te dem ukrai­ni­schen Wunsch nach einer formel­len Einla­dung in die Nato eine Absage. «Für eine Einla­dung der Ukrai­ne, für konkre­te Schrit­te in Richtung Mitglied­schaft (ist) der Zeitpunkt nicht da. Hierfür gibt es auch unter den Verbün­de­ten keinen Konsens», hieß es aus Regierungskreisen.

Nach Angaben von Diplo­ma­ten anderer Nato-Staaten stemmt die Bundes­re­gie­rung sich in den Verhand­lun­gen über die geplan­te Gipfel­er­klä­rung zudem gegen eine Formu­lie­rung, dass die Ukrai­ne einen «recht­mä­ßi­gen Platz» im Bündnis hat. Aus deutschen Regie­rungs­krei­sen hieß es zu der Ukrai­ne-Passa­ge in der Erklä­rung ledig­lich, dies sei eine «von fünf, sechs Fragen, die im Moment noch disku­tiert werden».

Stolten­berg räumte gestern ein, dass noch keine endgül­ti­ge Entschei­dung über die Beitritts­per­spek­ti­ve der Ukrai­ne getrof­fen worden sei. Das Land vertei­digt sich seit 16 Monaten gegen einen Angriffs­krieg Russlands. Konsul­ta­tio­nen über die Bedin­gun­gen für den Weg der Ukrai­ne zur Nato-Mitglied­schaft seien weiter­hin im Gang.

Biden und Scholz wollen Selen­skyj treffen

US-Präsi­dent Joe Biden will beim Nato-Gipfel zu einem bilate­ra­len Treffen mit dem ukrai­ni­schen Staats­chef Wolodym­yr Selen­skyj zusam­men­kom­men. Die beiden wollten am Mittwoch über langfris­ti­ge Sicher­heits­zu­sa­gen der USA für die Ukrai­ne sprechen, teilt Bidens natio­na­ler Sicher­heits­be­ra­ter Jake Sulli­van mit. Auch Bundes­kanz­ler Olaf Scholz (SPD) plant nach Angaben aus deutschen Regie­rungs­krei­sen am Mittwoch ein bilate­ra­les Treffen mit Selen­skyj. Bereits am Diens­tag­nach­mit­tag will Scholz demnach mit dem türki­schen Präsi­dent Recep Tayyip Erdogan zusam­men­kom­men. Selen­skyj soll als Gast am Gipfel des Vertei­di­gungs­bünd­nis­ses in der litaui­schen Haupt­stadt teilnehmen.

Gipfel soll Abschre­ckung und Vertei­di­gung voranbringen

Nato-General­se­kre­tär Stolten­berg erwar­tet vom Gipfel­tref­fen ein Signal für eine stärke­re Unter­stüt­zung der Ukrai­ne. Beson­ders wichtig sei es, die weite­re Versor­gung der Ukrai­ne mit Muniti­on zu sichern, so Stolten­berg am Diens­tag in Vilni­us. Auf die Frage, ob der Gipfel dem von Russland angegrif­fe­nen Land für die Zeit nach dem Krieg Sicher­heits­ga­ran­tien geben werde, sagte Stolten­berg, er erwar­te klare Entschei­dun­gen für eine Fortset­zung und Verstär­kung der Ukrai­ne-Hilfe. «Und ich bin auch zuver­sicht­lich, dass die Verbün­de­ten zur Frage einer Mitglied­schaft bekräf­ti­gen werden, dass die Ukrai­ne ein Mitglied werden wird.»

Die insge­samt mehr als 4000 Seiten starken Vertei­di­gungs­plä­ne beschrei­ben nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur detail­liert, wie kriti­sche Orte im Bündnis­ge­biet durch Abschre­ckung geschützt und im Ernst­fall vertei­digt werden sollten. Dafür wird auch definiert, welche militä­ri­schen Fähig­kei­ten notwen­dig sind. Neben Land‑, Luft‑, und Seestreit­kräf­ten sind auch Cyber- und Weltraum­fä­hig­kei­ten eingeschlossen.