Offizi­ell mindes­tens 20.000 Tote — und es könnten noch zweimal so viele hinzu­kom­men. Die Hoffnung, in den Erdbe­ben­ge­bie­ten in der Türkei und Syrien noch Überle­ben­de zu finden, geht zu Ende.

Unter den Tausen­den einge­stürz­ten Gebäu­den im türkisch-syrischen Grenz­ge­biet gibt es vermut­lich noch Zehntau­sen­de Erdbe­ben­op­fer. Bis Donners­tag­abend wurden schon knapp über 20.000 Tote gemel­det. Hinzu kommen mehr als 75.000 Verletz­te in der Türkei und in Syrien.Nach mehr als drei Tagen und dem Richt­wert von 72 Stunden, die ein Mensch eigent­lich höchs­tens ohne Wasser auskom­men kann, geht die Hoffnung auf weite­re Überle­ben­de verlo­ren, auch wenn es verein­zelt Meldun­gen von Geret­te­ten nach über 80 Stunden gab. So rette­ten Einsatz­kräf­te etwa zwei fünf und elf Jahre alte Brüder in der Südost­tür­kei nach 84 Stunden aus den Trümmern.Nach Einschät­zung von Fachleu­ten könnte die Zahl der Toten nach der Erdbe­ben­ka­ta­stro­phe erheb­lich steigen. Schnel­le Hochrech­nun­gen auf Basis empiri­scher Schadens­mo­del­le ließen bis rund 67.000 Todes­op­fer erwar­ten, teilte am Donners­tag Andre­as Schäfer vom Karls­ru­her Insti­tut für Techno­lo­gie (KIT) mit.

Trauri­ge Erdbe­ben-Histo­rie in der Türkei

Am frühen Montag­mor­gen hatte ein Beben der Stärke 7,7 das türkisch-syrische Grenz­ge­biet erschüt­tert. Montag­mit­tag folgte dann ein weite­res Beben der Stärke 7,6 in dersel­ben Region.

Die Beben gehör­ten wahrschein­lich zu den 20 tödlichs­ten Erdbe­ben weltweit seit dem Jahr 1900, teilte das KIT mit. Schon 11 der 100 tödlichs­ten Erdbe­ben seitdem ereig­ne­ten sich demnach in der Türkei.

Mehr als 100.000 Helfer sind in der Türkei nach Regie­rungs­an­ga­ben im Einsatz. Sie werden von Suchhun­den unter­stützt. Retter in Syrien vermu­ten, dass auch dort Hunder­te Famili­en unter den Trümmern begra­ben sind. Eines der am schwers­ten betrof­fe­nen Gebie­te in dem Land ist die von Rebel­len kontrol­lier­te Region Idlib.

Die Assad-Regie­rung beherrscht inzwi­schen wieder rund zwei Drittel des zersplit­ter­ten Landes. Die Erdbe­ben­ka­ta­stro­phe traf im Norden Gebie­te unter verschie­de­ner Kontrol­le, was Helfern die Arbeit zusätz­lich erschwert.

Die Bundes­re­gie­rung arbei­tet mit daran, die Versor­gung der Menschen im schwer erreich­ba­ren Nordsy­ri­en zu verbes­sern. Das Problem sei, dass das «Regime» zuletzt keine humani­tä­re Hilfe ins Land gelas­sen habe, sagte Außen­mi­nis­te­rin Annale­na Baerbock (Grüne) im WDR-Radio.

Menschen­recht­ler: Syrien-Sanktio­nen aussetzen

Die Inter­na­tio­na­le Gesell­schaft für Menschen­rech­te forder­te die sofor­ti­ge Ausset­zung der Sanktio­nen gegen Syrien. «Unsere Botschaft in dieser Krisen­si­tua­ti­on ist klar und eindeu­tig: Eine Erdbe­ben-Katastro­phe ist keine politi­sche Angele­gen­heit», sagte General­se­kre­tär Matthi­as Boehning laut Mittei­lung am Donners­tag bei einer Kundge­bung in Bonn.

Nach dem Willen mehre­rer Abgeord­ne­ter von Bund und Ländern sollen Überle­ben­de kurzfris­tig unbüro­kra­tisch bei Verwand­ten in Deutsch­land unter­kom­men können, wenn diese für den Lebens­un­ter­halt der Angehö­ri­gen aufkom­men. «Ich selbst habe mehre­re Anfra­gen von Menschen in Deutsch­land erhal­ten, die gern ihren Angehö­ri­gen ohne Obdach helfen möchten», sagte der Vizechef der deutsch-türki­schen Parla­men­ta­ri­er­grup­pe, Macit Karaah­me­to­g­lu (SPD), der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Das Auswär­ti­ge Amt teilte mit, dass türki­sche und syrische Staats­an­ge­hö­ri­ge auch nach dem Erdbe­ben für eine Einrei­se nach Deutsch­land ein Visum benötigten.

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Ein Retter und sein Hund suchen im türki­schen Kahra­man­ma­ras in den Trümmern eines Gebäu­des nach Überle­ben­den (Foto: Musta­fa Kaya/XinHua/dpa)

Zur Unter­stüt­zung der nur schwer erreich­ba­ren Erdbe­ben-Opfer im Nordwes­ten Syriens trafen am Donners­tag sechs Lastwa­gen mit Hilfs­gü­tern der Verein­ten Natio­nen ein. Aktivis­ten in Syrien berich­te­ten, es handle sich um Hilfs­lie­fe­run­gen, die schon vor dem Erdbe­ben geplant und nur davon aufge­hal­ten worden seien. Dringend benötig­te Ausrüs­tung für die Rettungs­teams in Syrien sei deshalb nicht angekom­men — statt­des­sen Güter wie etwa Wasch­mit­tel. «Das ist sehr enttäu­schend und beschä­mend», sagte der Leiter der Syrischen Beobach­tungs­stel­le für Menschen­rech­te, Rami Abdel Rahman, der dpa.

UN fordert weite­re Grenzöffnungen

Der einzi­ge Grenz­über­gang Bab al-Hawa war schon vor dem Erdbe­ben eine Lebens­ader für rund 4,5 Millio­nen Menschen im Nordwes­ten des Landes, die nicht von der syrischen Regie­rung kontrol­liert werden. 90 Prozent der Bevöl­ke­rung waren dort bereits vor der Katastro­phe nach UN-Angaben auf humani­tä­re Hilfe angewie­sen. In der Region leben Millio­nen Menschen, die durch Kämpfe in Syrien vertrie­ben wurden.

Angesichts der nur schwer erreich­ba­ren Erdbe­ben-Opfer im Nordwes­ten Syriens verlang­te UN-General­se­kre­tär António Guter­res die Öffnung weite­rer Grenz­über­gän­ge aus der Türkei. «Wir brauchen massi­ve Unter­stüt­zung und deshalb würde ich mich natür­lich sehr freuen, wenn der Sicher­heits­rat einen Konsens erzie­len könnte, um die Nutzung von mehr Übergän­gen zuzulas­sen, da wir auch unsere Kapazi­tät erhöhen müssen», sagte Guter­res am Donners­tag in New York.

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Ein Trans­port­flug­zeug der Luftwaf­fe wird auf dem Gelän­de vom Flieger­horst Wunstorf beladen (Foto: Moritz Frankenberg/dpa)

Die ersten Hilfs­flü­ge der Bundes­wehr starte­ten am Donners­tag vom nieder­säch­si­schen Wunstorf aus und lande­ten in der Türkei. Die türki­sche Regie­rung habe Materia­li­en zur Unter­brin­gung der vom Erdbe­ben betrof­fe­nen Bevöl­ke­rung bei der Bundes­re­gie­rung angefor­dert, sagte der Präsi­dent des THW, Gerd Fried­sam. Zuvor waren schon Teams verschie­de­ner Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen in die Türkei geflo­gen. Frank­reich wollte noch am Donners­tag ein Feldla­za­rett schicken, in dem mehre­re Hunder­te Verletz­te pro Tag behan­delt werden können. Israe­li­sche Rettungs­kräf­te bauten bereits ein Feldla­za­rett in der Türkei auf.

Ausnah­me­zu­stand ausgerufen

Präsi­dent Erdogan ließ am Donners­tag vom Parla­ment in Ankara den erdbe­ben­be­ding­ten Ausnah­me­zu­stand für drei Monate bestä­ti­gen. Das Dekret wurde im Amtsblatt veröf­fent­licht — damit ist der Ausnah­me­zu­stand in Kraft. Die Maßnah­me umfasst die zehn Provin­zen, die auch vom Erdbe­ben getrof­fen wurden.

Erdogan hatte gesagt, der Ausnah­me­zu­stand werde auch helfen, gegen die vorzu­ge­hen, die «Unfrie­den und Zwietracht stiften». Es habe zum Beispiel Plünde­run­gen gegeben, die nun verhin­dert werden könnten. Erdogan hatte den Ausnah­me­zu­stand schon am Diens­tag angekündigt.

Mit dem Ausnah­me­zu­stand können laut staat­li­cher Nachrich­ten­agen­tur Anado­lu in den betref­fen­den Regio­nen etwa öffent­li­che Einrich­tun­gen, Organi­sa­tio­nen oder «juris­ti­sche und natür­li­che Perso­nen» in der Region dazu verpflich­tet werden, beispiels­wei­se Ausrüs­tung, Grund­stü­cke, Gebäu­de, Fahrzeu­ge oder Medika­men­te abzugeben.

Von Mirjam Schmitt, Johan­nes Sadek und Weedah Hamzah, dpa