RAVENSBURG/FRIEDRICHSHAFEN — Bedin­gungs­lo­se Hilfe ohne erhobe­nen Zeige­fin­ger: Street­wor­ke­rin­nen in der Region Ravens­burg-Boden­see sind für Menschen da, die mit Sucht und anderen Proble­men zu kämpfen haben. 

„Sozia­le Randgrup­pen gehören zur Gesell­schaft, sie brauchen Akzep­tanz — und einen Raum”, sagt Jessi­ca Burk. Die 40-jähri­ge arbei­tet beim Zentrum für Psych­ia­trie (ZfP) Südwürt­tem­berg und ist als Street­wor­ke­rin in Ravens­burg unter­wegs. Die Drogen-Szene der Stadt hat ihren Raum am Bahnhof. Ein Raum, der sich — in nunmehr zwei Jahren Pande­mie — erheb­lich verän­dert hat. Lockdowns und Abstands­ge­bo­te, Polizei­kon­trol­len und Platz­ver­wei­se haben Gruppen­tref­fen an öffent­li­chen Plätzen erschwert, zeitwei­se sogar unmög­lich gemacht. „Für uns ist es damit auch schwie­ri­ger gewor­den, an die Leute ranzu­kom­men”, sagt Dr. Markus Leibf­arth. „Dabei sind die Proble­me nicht kleiner, sondern größer gewor­den.” Der Medizi­ner leitet die Drogen­ent­zugs­sta­ti­on Maria­tal, die zum ZfP gehört. Zu seinem Team zählen auch die Street­wor­ke­rin Jessi­ca Burk sowie deren Kolle­gin Kerstin Roth-Frenzel, die in den Szene-Treffs in Fried­richs­ha­fen unter­wegs ist. Der Job der beiden Frauen ist es nicht, die Konsu­men­ten zu „bekeh­ren” oder auf den rechten Weg zu bringen: „Wir bieten ganz nieder­schwel­li­ge Hilfen an”, erklä­ren sie. 

Den Grund­ge­dan­ken des Hilfs­sys­tems, das vom Landkreis Ravens­burg inhalt­lich wie finan­zi­ell mitge­tra­gen wird, fasst Markus Leibf­arth so zusam­men: „Wir unter­stüt­zen Leute mit schwe­ren Sucht­pro­ble­men, gesund­heit­li­chen und sozia­len Begleit­erschei­nun­gen. Dabei ist das primä­re Ziel nicht, sie in eine Thera­pie zu führen — auch wenn es schön ist, wenn das in manchen Fällen gelingt. Wir leisten vor allem Überle­bens­hil­fe, ohne Hürden voran­zu­stel­len oder Bedin­gun­gen daran zu knüpfen. „Für die Street­wor­ke­rin­nen geht es im Kern vor allem darum, Vertrau­en zu ihren Klien­ten aufzu­bau­en. Deshalb ist auch eine anony­me Kontakt­auf­nah­me möglich. Jessi­ca Burk und Kerstin Roth-Frenzel unter­lie­gen, wie alle anderen Mitglie­der von Leibf­arths Team auch, der Schwei­ge­pflicht. Sich auf jeman­den verlas­sen zu können: Das ist für Hilfe­su­chen­de aus der Szene, die neben ihrer Sucht meist viele weite­re Proble­me mitbrin­gen, wichtig.
„Wir waren selbst im härtes­ten Lockdown immer da und sind dorthin gegan­gen, wo die Leute sind und sich am wohls­ten fühlen”, betont Kerstin Roth-Frenzel. Die Street­wor­ke­rin­nen sind an öffent­li­chen Plätzen präsent und spontan ansprech­bar, besuchen Menschen, die das möchten, nach der ersten Kontakt­auf­nah­me aber auch zuhause. 

„Wir sind ganz oft die Brückenbauer“

„Es geht darum, den indivi­du­el­len Bedarf abzuklä­ren und die Leute dort abzuho­len, wo sie aktuell im Leben stehen”, erklärt Kerstin Roth-Frenzel. „Wir sind ganz oft die Brücken­bau­er.” Das Netzwerk, in dem sie sich bewegt und vermit­telt, ist weitver­zweigt und dicht. Klini­ken und Ärzte, ambulan­te oder statio­nä­re psych­ia­tri­sche Einrich­tun­gen, Hilfs­an­ge­bo­te sozia­ler Träger und Schul­den­be­ra­ter gehören dazu, und auch zum Jobcen­ter oder Gerichts­ver­hand­lun­gen beglei­ten die Street­wor­ke­rin­nen ihre Klien­ten gerne. Die Klien­ten, das sind überwie­gend Männer im Alter zwischen 30 und 50 Jahren, viele von ihnen konsu­mie­ren seit Jahren illega­le Drogen und/oder Alkohol. Im Jahr 2021 erreich­te das Street­work-Angebot im Landkreis Ravens­burg 57 Menschen, davon waren mehr als zwei Drittel Männer. Die meisten haben eine Wohnung, sind nicht obdach­los, der überwie­gen­de Teil lebt von Hartz IV. „Viele sind langzeit­ab­hän­gig”, sagt Jesssi­ca Burk, die im Laufe ihrer Berufs­jah­re wechseln­de Trends beobach­tet hat: Vor zehn Jahren wurden vor allem Opiate konsu­miert, heute überwie­gen Aufputsch­mit­tel, „Kräuter­mi­schun­gen“ und sogenann­te synthe­ti­sche Canna­bi­no­ide, künst­lich herge­stell­te Substan­zen also, die eine ähnli­che Wirkung haben wie natür­li­ches Canna­bis. Kombi­niert mit anderen Drogen, Medika­men­ten und Alkohol ergeben sich mitnich­ten harmlo­se, sondern hochge­fähr­li­che, polyto­xe Cocktails: „Man weiß meistens nicht, was drin ist”, sagt Jessi­ca Burk, „2018/2019 sind zwölf Menschen inner­halb eines Jahres an den Folgen ihrer Drogen­sucht verstor­ben”, schil­dert sie den trauri­gen Höhepunkt der Entwicklung. 

Teil des Hilfs­an­ge­bots ist auch der Kontakt­la­den „die Insel” in Ravens­burg, der die aufsu­chen­de Arbeit der Street­wor­ke­rin­nen ergänzt. Der Name ist Programm: Jeder darf kommen und gehen wie er will, aber die offene Einrich­tung ist eine verläss­li­che Anlauf­stel­le. „Man kann dort seine Wäsche waschen, saube­re Nadeln abholen, was essen oder mit jeman­dem reden”, sagt Jessi­ca Burk, die selbst einen Teil ihrer Arbeits­zeit dort verbringt und, wie zwei weite­re Sozial­ar­bei­ter, für Hilfe­su­chen­de ansprech­bar ist. Geöff­net ist immer von 13 bis 17 Uhr täglich außer mittwochs. Der Kontakt­la­den war 1996 eröff­net worden, nachdem die Drogen­pro­ble­ma­tik in der Ravens­bur­ger Innen­stadt massiv zugenom­men, sich aber zugleich gezeigt hatte, dass Drogen­ab­hän­gi­ge durch bestehen­de Angebo­te kaum erreicht wurden. Damals hatten sich verschie­de­ne Träger zur Sucht­hil­fe gemein­nüt­zi­ge GmbH Ravens­burg zusam­men­ge­schlos­sen. 2018 ging „die Insel” in die allei­ni­ge Träger­schaft des ZfP über.