BERLIN (dpa) — Auch sechs Monate nach Kriegs­be­ginn sieht man an deutschen Bahnhö­fen noch ukrai­ni­sche Frauen, oft beglei­tet von Kindern. Einige von ihnen sind — oft mit bangem Herzen — auf dem Rückweg.

Ein halbes Jahr nach Beginn des russi­schen Angriffs­krie­ges ist ein Teil der Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne wieder in die umkämpf­te Heimat zurück­ge­kehrt — trotz der damit verbun­de­nen Risiken.

Dazu, wie viele der vorwie­gend weibli­chen Geflüch­te­ten diesen Weg zurück beschrit­ten haben, gibt es nach Angaben des Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­ums noch keine verläss­li­chen Zahlen. Einige Mütter haben in den letzten Wochen immer wieder hin und her überlegt, ob sie zu Schul­jah­res­be­ginn zurück­keh­ren sollen. Ist die Schule daheim unbeschä­digt? Können die Klassen­räu­me genutzt werden, oder leben dort womög­lich noch Vertriebene?

Bekannt ist, dass seit Kriegs­be­ginn am 24. Febru­ar 965.000 Menschen im Auslän­der­zen­tral­re­gis­ter erfasst wurden, die wegen des Kriegs in der Ukrai­ne nach Deutsch­land gekom­men sind. Davon sind 97 Prozent ukrai­ni­sche Staats­bür­ger. Nach Angaben des UNHCR sind insge­samt rund 3,8 Millio­nen Kriegs­flücht­lin­ge zumin­dest teilwei­se wieder in die Ukrai­ne zurück­ge­kehrt. Die meisten von ihnen reisen via Polen.

Gefühl der Zerissenheit

Wer in Deutsch­land geblie­ben ist, leidet oft unter einem Gefühl der Zerris­sen­heit. Hier die neuen Heraus­for­de­run­gen: Deutsch lernen, eine Wohnung finden, die Jobsu­che. Dort die Angehö­ri­gen und Freun­de und Fragen wie: Ist der alte Job noch da, die eigene Wohnung?

Generell gilt: Wer aus einem der stark zerstör­ten, bezie­hungs­wei­se von russi­schen Truppen besetz­ten Gebie­te stammt, denkt selte­ner über eine baldi­ge Rückkehr in die Ukrai­ne oder zumin­dest kurze Besuche bei der Familie nach als Menschen, die zuletzt in der Haupt­stadt Kiew lebten oder im Westen des Landes.

Auch eine der beiden Ukrai­ne­rin­nen, die in Berlin-Steglitz im Haus der Familie von Robert Heycke unter­ge­kom­men sind, würde gerne für eine Woche nach Kiew reisen, um ihren herzkran­ken Vater im Kranken­haus zu besuchen. Beim Jobcen­ter habe man ihr jedoch gesagt, dass dies in den ersten drei Monaten nach der Anmel­dung dort nicht möglich sei — obwohl ihr Deutsch-Sprach­kurs noch nicht begon­nen hat.

Integra­ti­ons- und Erstorientierungskurse

In der vergan­ge­nen Woche nahmen laut Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­um bundes­weit 144.164 Menschen an Integra­ti­ons­kur­sen teil. 57 Prozent von ihnen stamm­ten aus der Ukrai­ne. Während die beiden Ukrai­ne­rin­nen aus Berlin-Steglitz Deutsche an ihrer Seite haben, die sie bei Behör­den­gän­gen unter­stüt­zen, müssen andere Flücht­lin­ge allei­ne mit der fremden Bürokra­tie klarkommen.

Die Nachfra­ge nach sogenann­ten Erstori­en­tie­rungs­kur­sen, wo erste Deutsch­kennt­nis­se vermit­telt und ein Überblick über das Leben in Deutsch­land gegeben wird, ist durch die Ankunft der Ukrai­ne-Flücht­lin­ge stark gestie­gen, wie ein Sprecher des Innen­mi­nis­te­ri­ums auf Anfra­ge mitteilt. Statt der sonst üblichen 300 Kurse finden aktuell im Schnitt 800 statt.

Ende Mai lag die Zahl der sozial­ver­si­che­rungs­pflich­tig beschäf­tig­ten Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner in Deutsch­land bei rund 84.000 — ein Anstieg um 26.500 Beschäf­tig­te seit Febru­ar. Aktuel­le­re Zahlen liegen dem Bundes­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozia­les noch nicht vor. Mitte Juli bezogen rund 454.000 ukrai­ni­sche Staats­bür­ger Leistun­gen des Sozial­ge­setz­bu­ches II, sind also Hartz-IV-Empfänger.

Erst mal Aufent­halts­ti­tel für ein Jahr

Die Staaten der Europäi­schen Union hatten sich im März — nur wenige Tage nach Kriegs­be­ginn — geeinigt, auf die Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne die sogenann­te Massen­zu­strom-Richt­li­nie anzuwen­den. Diese sieht vor, dass die Schutz­su­chen­den keinen Asylan­trag stellen müssen, sondern erst einmal einen Aufent­halts­ti­tel für ein Jahr erhal­ten und arbei­ten dürfen. Wer nicht sofort Arbeit fand, erhielt zuerst Leistun­gen vom Sozial­amt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.

Seit dem 1. Juni sind in Deutsch­land die Jobcen­ter für die Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner zustän­dig. Sie vermit­teln Kurse, kümmern sich um die Anerken­nung auslän­di­scher Abschlüs­se und um Fortbil­dun­gen, weisen auf freie Stellen hin und sorgen dafür, dass Anspruchs­be­rech­tig­te Leistun­gen der Grund­si­che­rung erhal­ten. Aus Sicht des Deutschen Städte­tags war der Wechsel von den Sozial- und Auslän­der­äm­tern zu den Jobcen­tern zwar aufwen­dig, ist aber insge­samt sehr gut gelaufen.

In diesen Tagen treibt viele der Kriegs­flücht­lin­ge die Sorge um, Russlands Präsi­dent Wladi­mir Putin könne den ukrai­ni­schen Unabhän­gig­keits­tag an diesem Mittwoch zum Anlass für verstärk­te Angrif­fe nutzen. Da sich die weite­re Entwick­lung des Krieges nur schwer vorher­se­hen lässt, gibt es auch bei den Mitar­bei­tern der Verwal­tung teilwei­se Verständ­nis für «Flucht-Pendler». EU-Innen­kom­mis­sa­rin Ylva Johans­son hatte Anfang des Monats auch betont, es sei wichtig, dass auch jene, die dauer­haft in die Ukrai­ne zurück­kehr­ten, wieder in der EU willkom­men seien, falls sich die Lage verschlechtere.

Von Anne-Beatri­ce Clasmann, dpa