BERLIN (dpa) — Reisen, Konzert­be­su­che, Feste — lange war all das quasi unmög­lich. Jetzt, im dritten Pande­mie­jahr, fühlt sich das Leben für viele wieder weitge­hend normal an. Wird Corona nun Teil unseres Alltags?

Für viele Menschen hat Corona in den vergan­ge­nen Monaten seinen Schre­cken verloren.

Mit dem Auftau­chen der Omikron-Varian­te Ende vergan­ge­nen Jahres breite­te sich das Virus zwar mit zuvor unbekann­ter Geschwin­dig­keit aus und infizier­te binnen weniger Wochen Millio­nen Menschen in Deutsch­land. Aller­dings erkrank­ten die meisten von ihnen — wenn überhaupt — nur vergleichs­wei­se leicht, auch dank der Impfun­gen. Ist der Ausnah­me­zu­stand der vergan­ge­nen Jahre also vorbei?

Eine oft geäußer­te Hoffnung ist, dass die Pande­mie sich in eine Endemie wandelt. Dieser häufig etwas unscharf verwen­de­te Begriff beschreibt einen Zustand, in dem die Infek­ti­ons­wel­len abfla­chen und damit zumin­dest für einen Großteil der Bevöl­ke­rung auch die Auswir­kun­gen des Infek­ti­ons­ge­sche­hens weniger gravie­rend sind. Laut Friede­mann Weber von der Justus-Liebig-Univer­si­tät Gießen kommt es bei der Frage nach der Endemie darauf an, ob man die Krank­heit Covid-19 oder das Virus Sars-CoV‑2 meint.

Endemisch bedeu­tet nicht automa­tisch gut

Ein endemi­scher Zustand wäre dann erreicht, wenn es keine starke Häufung von Infek­tio­nen oder Erkran­kun­gen mehr gäbe. «Im Fall von Covid-19 könnte das schon bald der Fall sein, denn Immuni­tät — erwor­ben durch Impfung und Infek­ti­on — schützt ganz gut davor», sagt Weber. «Im Fall des Virus werden aber immer wieder neue Varian­ten einge­schleppt, die für einen raschen Anstieg der Fallzah­len sorgen.» Grund­sätz­lich gilt: Endemisch bedeu­tet nicht automa­tisch gut. Denn natür­lich können Menschen weiter­hin an Covid-19 erkran­ken und sterben.

Wie es in den kommen­den Monaten weiter geht, wie stark uns das Virus noch beschäf­ti­gen wird, hängt unter anderem davon ab, wie groß die Immuni­tät in der Bevöl­ke­rung mittler­wei­le ist. Also wie viele Menschen über eine zurück­lie­gen­de Infek­ti­on oder über eine Impfung einen Schutz vor einer weite­ren Anste­ckung und/oder Erkran­kung aufge­baut haben.

Hinwei­se auf das Ausmaß der Immuni­tät gibt eine kürzlich von Wissen­schaft­lern des Robert Koch-Insti­tuts (RKI) vorge­leg­te Model­lie­rung. Nach dieser Unter­su­chung sind nur noch sieben Prozent der Menschen in Deutsch­land immuno­lo­gisch naiv — also weder geimpft noch über eine Anste­ckung mit dem Corona­vi­rus in Kontakt gekommen.

Je größer der Anteil dieser Gruppe, desto leich­ter hat es das Virus im Allge­mei­nen, sich auszu­brei­ten. Mit sieben Prozent sollten die Ausbrei­tungs­chan­cen des Virus schon beträcht­lich begrenzt sein — auch wenn nicht sicher ist, wie gut geschützt die übrigen 93 Prozent jeweils vor weite­rer Anste­ckung und Erkran­kung sind.

Aller­dings verwei­sen die RKI-Forscher darauf, dass die erreich­te Immuni­tät von Bundes­land zu Bundes­land sehr unter­schied­lich sei, zumeist aufgrund der unter­schied­li­chen Impfquo­ten. Auch in den Alters­grup­pen variier­ten die ermit­tel­ten Zahlen sehr: Bei älteren Menschen ab 60 Jahren mit höherem Risiko eines schwe­ren Krank­heits­ver­laufs gehen die Wissen­schaft­ler von rund vier Prozent aus, die immuno­lo­gisch naiv sind. Unter den Kindern sei die Zahl derer, die über keiner­lei Immuni­tät verfüg­ten hinge­gen größer — schließ­lich gibt es für die Jünge­ren unter 5 Jahren noch keinen Covid-19-Impfstoff, für die 5- bis 11-Jähri­gen bisher nur eine einge­schränk­te Impfempfehlung.

Nichts Genau­es kann vorher­ge­sagt werden

Wie sich die Situa­ti­on in den kommen­den Monaten entwi­ckeln wird, ist entschei­dend auch von der weite­ren Entwick­lung des Virus abhän­gig. Und die ist schwer vorher­zu­se­hen. «Andere Viren, wie zum Beispiel Grippe-Viren, verän­dern sich eher schritt­wei­se und weniger sprung­haft als Sars-CoV‑2 in den vergan­ge­nen zwei Jahren», sagt Richard Neher, der am Biozen­trum der Univer­si­tät Basel die Evolu­ti­on von Viren erforscht. «Es ist denkbar, dass Sars-CoV‑2 sich in Zukunft auch gradu­el­ler und weniger drama­tisch verän­dert.» Ob und wann dieser Wandel komme, sei aber unklar.

Das Auftau­chen einer «Killer­va­ri­an­te», wie sie von Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Karl Lauter­bach vor einiger Zeit in den Raum gestellt wurde, wird von den meisten Exper­ten für eher unwahr­schein­lich gehal­ten. Aber auch ohne eine extrem immun­re­sis­ten­te und krank­ma­chen­de Varian­te ist nicht abschlie­ßend geklärt, wie gut — und wie langan­hal­tend — der bisher erreich­te Immun­schutz in der Bevöl­ke­rung ist.

Fachleu­te gehen davon aus, dass er im Allge­mei­nen mit der Zahl der Kontak­te zunimmt, die eine Immuni­tät herstel­len — also mit der Zahl an Impfun­gen oder durch­ge­mach­ten Infek­tio­nen. Vollstän­dig Geimpf­te mit einem Booster und besten­falls einer zurück­lie­gen­den Infek­ti­on wären demnach am besten vor schwe­rer Erkran­kung geschützt. Ungeimpf­te Menschen, die sich in den zurück­lie­gen­den Monaten ledig­lich mit Omikron angesteckt haben, sind womög­lich im kommen­den Herbst kaum besser­ge­stellt als gänzlich Immun­nai­ve. Vor allem, wenn ihre Infek­ti­on nur milde verlau­fen ist, habe das Immun­sys­tem nach Ansicht einiger Fachleu­te womög­lich keinen langfris­tig ausrei­chen­den Immun­schutz aufgebaut.

«Wenn im nächs­ten Herbst/Winter immer noch Omikron-ähnli­che Varian­ten bei uns vorherr­schen, können wir mit der Anzahl der Immun­nai­ven wahrschein­lich gut zurecht­kom­men», sagt der Immuno­lo­ge Carsten Watzl, General­se­kre­tär der Deutschen Gesell­schaft für Immuno­lo­gie. «Wenn von Delta abgelei­te­te Varian­ten vorherr­schen, ist die Gruppe der Immun­nai­ven größer, und das könnte dann immer noch Proble­me bereiten.»

Gefah­ren für das Gesund­heits­we­sen niedriger

Als Vorteil verbucht Virus­evo­lu­ti­ons­for­scher Neher aus Basel, dass die Immuni­täts-Landschaft in der Bevöl­ke­rung immer diver­ser werde, da die Menschen unter­schied­li­che Impf- und Infek­ti­ons­his­to­ri­en hätten. «Mit zuneh­men­der Diver­si­tät werden Varian­ten, die die Immuni­tät der Mehrheit der Bevöl­ke­rung umgehen, weniger wahrscheinlich.»

Kann man vor diesem Hinter­grund davon ausge­hen, dass Überlas­tun­gen des Gesund­heits­sys­tems und der Inten­siv­sta­tio­nen der Vergan­gen­heit angehö­ren? «Was Covid betrifft in meinen Augen ja, selbst bei einer neuen Varian­te mit ausge­präg­tem Immune­s­cape», sagt Chris­ti­an Karagi­ann­idis, wissen­schaft­li­cher Leiter des Divi-Inten­siv­re­gis­ters. «Da müssten wir schon sehr viel Pech haben.» Aller­dings setzen sich Belas­tun­gen des Gesund­heits­we­sens zusam­men aus den vorhan­de­nen Kapazi­tä­ten und allen Erkrank­ten — «da müssen wir mit einer deutli­chen Welle respi­ra­to­ri­scher Erkran­kun­gen im Herbst/Winter rechnen, wie zum Beispiel der Grippe».

Ob die Maßnah­men im Herbst wieder verschärft werden müssen, sei extrem schwie­rig vorher­zu­sa­gen, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Insti­tut für Präven­ti­ons­for­schung und Epide­mio­lo­gie in Bremen. «Ganz harte Maßnah­men wie Lockdowns sollten aber nicht mehr nötig werden, vor allem wenn weite­re Booste­rung über den Sommer erfolgt.»

Von Anja Garms und Gisela Gross, dpa