BERGISCH GLADBACH (dpa) — Mehr als 20.000 Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne haben die Schulen deutsch­land­weit schon aufge­nom­men. An einem Gymna­si­um nahe Köln wohnen viele der Neuen auch bei ihren Mitschülern.

Konstan­tin (15) ist vor dem Krieg aus der Ukrai­ne geflo­hen. Seit wenigen Wochen wohnt er in Bergisch Gladbach bei Köln und besucht dort das Gymnasium.

«Ich bin gestresst und nervös wegen der Lage zu Hause, aber hier fühle ich mich sicher. Es ist so ein 50-zu-50-Gefühl», erzählt der Jugend­li­che auf Englisch. Die Hälfte der Unter­richts­zeit verbringt er am Alber­tus-Magnus-Gymna­si­um (AMG) in der Deutsch-Förder­grup­pe. In der anderen Zeit wird er in einer festen Klasse in Fächern wie Englisch, Mathe­ma­tik und Sport unter­rich­tet. Da kommt es nicht so sehr auf Deutsch­kennt­nis­se an.

«Ich halte Kontakt zu meinen Freun­den in Odessa, sage ihnen, dass ich hier lerne und frage sie nach dem Krieg, wie es ihnen geht und ob unser Haus noch steht», sagt Konstan­tin. Um ihn und seine Familie aufzu­neh­men, sind die Verwand­ten im Bergi­schen zusam­men­ge­rückt. Aus fünf wurden zehn Bewoh­ner — und Lola, Schüle­rin des AMG, teilt ihr Zimmer nun mit der Oma. «Ich fühle mich auch verant­wort­lich, es ist keine Last», meint die 15-Jähri­ge. Sie biete Konstan­tin Hilfe bei den Aufga­ben an. Ihr Vater hatte ihn sofort an der Schule angemel­det: «Er sollte keine Zeit verlie­ren, Deutsch lernen, Freun­de finden.»

Jede Klasse hat einen Paten für die Neuankömmlinge

Zehn ukrai­ni­sche Schüler zwischen 13 und 17 Jahre hat das AMG aufge­nom­men. «Es geht erst einmal um das Ankom­men, um Struk­tur und Gemein­schaft», erläu­tert Schul­lei­ter Rolf Faymon­ville. Alle lernen in der Deutsch-Förder­grup­pe (DFG). Jeder ist zudem einer Regel­klas­se zugeord­net, das klappe bei einigen schon gut in Fächern wie Englisch oder Mathe. Der nächs­te Schritt könne Erdkun­de oder Geschich­te sein, bilin­gu­al auf Deutsch und Englisch angebo­ten. «Wir docken an den aus der Ukrai­ne mitge­brach­ten Kennt­nis­sen an. Erfolgs­er­leb­nis­se sind wichtig.» In jeder Klasse gibt es einen Paten für die Neuankömmlinge.

Die meisten ukrai­ni­schen Schüler wohnen in den Famili­en ihrer Mitschü­ler oder werden von ihnen betreut. Bis zum Sommer will man sehen, ob die Älteren zum Berufs­kol­leg wechseln. Ob sie auch ihren ukrai­ni­schen Schul­ab­schluss per Distanz­un­ter­richt machen können, sei noch eine offene Frage der Politik, sagt Faymon­ville. «Bei uns findet Online-Unter­richt bereits in kleine­rem Umfang statt. Der Krieg hat die Verbin­dun­gen nicht überall unterbrochen.»

Die Kultus­mi­nis­ter­kon­fe­renz der Länder hatte jüngst eine Taskforce einge­setzt, um den Schul­be­such ukrai­ni­scher Kinder und Jugend­li­cher abzustim­men. Es geht auch um die Frage nach ukrai­ni­schen Online-Abschluss­prü­fun­gen und um die Gewin­nung ukrai­ni­scher Lehrkräfte.

Oksana Kamyschans­ka ist in der Ukrai­ne Lehre­rin für Litera­tur und Deutsch und musste mit ihrem Sohn (16) aus einem Vorort von Kiew fliehen. Sie ist nun ebenfalls privat in Bergisch Gladbach unter­ge­bracht. Die Pädago­gin unter­stützt die zehn ukrai­ni­schen Schüler und die Lehrkräf­te ehren­amt­lich. «Je länger die Schüler hier sind, desto siche­rer fühlen sie sich», schil­dert sie. Manche seien stark belas­tet, andere wirkten stabiler.

Sie selbst hat Angst um ihre Mutter (83), die sie zurück­las­sen mussten. «Die Russen rücken näher, wir sind sehr in Sorge.» Ihr Sohn verfol­ge die Nachrich­ten angespannt bis tief in die Nacht. Faymon­ville hofft, die Ukrai­ne­rin bald als Lehrkraft einstel­len zu können. «Wir warten auf das polizei­li­che Führungszeugnis».

«Die ukrai­ni­schen Schüler haben schlim­me Dinge erlebt»

Der Schul­lei­ter betont: «Die ukrai­ni­schen Schüler haben schlim­me Dinge erlebt. Schule ist aber kein Thera­pie­zen­trum.» Man wolle den Neuen den Weg in einen norma­len Alltag ebnen. Bei Bedarf gebe es Gesprächs­an­ge­bo­te zur psycho­so­zia­len Unter­stüt­zung. «Wir sehen, dass Schüler ihre Väter vermis­sen. Einige ältere Schüler wollten ihr Land nicht verlas­sen, sondern ihre Heimat mit den Vätern vertei­di­gen.» Den Lehrkräf­ten werde viel Finger­spit­zen­ge­fühl abverlangt.

Die ukrai­ni­sche General­kon­su­lin Iryna Tybin­ka hatte appel­liert, auf Konti­nui­tät der Bildungs­pro­zes­se und ein Aufrecht­erhal­ten der natio­na­len Identi­tät zu achten. Bildungs­ak­teu­re halten aber auch eine Integra­ti­on für wichtig. Nach Angaben der KMK lernen aktuell schon deutlich mehr als 20.000 geflüch­te­te ukrai­ni­sche Heran­wach­sen­de an deutschen Schulen. Der Lehrer­ver­band rechnet perspek­ti­visch mit rund 250.000 Schülern.

Unter den 16 Bundes­län­dern gibt es dem Medien­dienst Integra­ti­on zufol­ge in elf Ländern Vorbe­rei­tungs- oder Willkom­mens­klas­sen, in denen die Geflüch­te­ten getrennt von den anderen Schülern unter­rich­tet werden. In den meisten lernen sie paral­lel dazu in einigen Fächern gemein­sam mit den deutschen Mitschü­lern. In Mecklen­burg-Vorpom­mern, Nieder­sach­sen, Rhein­land-Pfalz, dem Saarland und Thürin­gen werden sie direkt Regel­klas­sen zugeteilt und bekom­men ergän­zend Deutsch­un­ter­richt. In Bayern und Bremen lernen die Ukrai­ner den Angaben zufol­ge zunächst ganz getrennt von den Stammschülern.

Am AMG werden fleißig Begrü­ßungs­dia­lo­ge geübt und erste Texte bearbei­tet, berich­tet DFG-Deutsch­leh­re­rin Ruth Bongartz. «Viele sind sehr motiviert und aufge­schlos­sen, was ganz erstaun­lich ist, wenn man bedenkt, aus welcher Situa­ti­on die Schüler kommen.» An der Schule ziehen alle an einem Strang, trotz coronabe­ding­ter Perso­nal­aus­fäl­le und inmit­ten der Abitur­pha­se. Ein Sponso­ren­lauf soll Spenden für Menschen in der Ukrai­ne einwer­ben. Faymon­ville sagt: «Ein Wunsch, der von den Schülern kam. Alle Jahrgän­ge machen mit, die Hilfs­be­reit­schaft ist enorm.»

Von Yuriko Wahl-Immel, dpa