POTSDAM/BERLIN (dpa) — Notarzt Wolfgang Wachs wurde selbst zum Notfall. Eine Organ­spen­de ermög­lich­te ihm das Weiter­le­ben. Als Trans­plan­ta­ti­ons­be­auf­trag­ter wollte er für dieses Geschenk etwas zurück­ge­ben. Dann kam die Pandemie.

«Ich könnte seit drei Jahren tot sein.» Dieser Satz schießt Wolfgang Wachs manch­mal durch den Kopf. In schönen Momen­ten, aber auch, wenn er an sein frühe­res Leben denkt. Vorbei.

Wachs war Notarzt aus Leiden­schaft. Am liebs­ten würde er sofort wieder in einen gelben Rettungs­hub­schrau­ber steigen. Doch mit Ende 50 brauch­te er eine neue Lunge.

Am 5. Juni ist Tag der Organ­spen­de. Es ist der Tag für fast 9000 Menschen in Deutsch­land, die zur Zeit auf ein Organ warten. Für rund jeden Zehnten unter ihnen wird es wahrschein­lich zu spät sein, bevor sich eine Chance ergibt. Chance heißt fast immer, dass jemand gestor­ben ist. Es ist auch der Tag all jener Menschen, die ermög­licht haben, dass andere weiterleben.

Wolfgang Wachs erkrankt an Lungenfibrose

Bei Wolfgang Wachs war es mehr als knapp. Als er sein Holzhaus nahe Potsdam im Winter 2018 verließ, wusste er nicht, ob er zurück­keh­ren würde. Ob er noch einmal auf seiner Garten­ter­ras­se mit der Leucht­ta­fel «Notauf­nah­me» sitzen würde, ein Scherz aus besse­ren Tagen. Oder im Zimmer mit der Ahnen­ga­le­rie, vom Ur-Urgroß­va­ter an, alle waren sie Medizi­ner. Doch das hilft nicht bei Lungen­fi­bro­se, einer Erkran­kung, die zum Ersti­ckungs­tod führt.

In der Berli­ner Chari­té mit Beatmungs­tech­nik warte­te Wachs, Woche um Woche, todkrank. Ende Januar 2018 gab es Hektik auf der Stati­on: «Wir haben eine Lunge.» Wolfgang Wachs erinnert sich, wie eupho­risch er war in jener Nacht. Der OP vorbe­rei­tet, Kolle­gen hielten die Daumen hoch. Doch dann passier­te — nichts. Schließ­lich sagte der Chirurg: «Wir können dieses Organ nicht trans­plan­tie­ren. Es ist zu schlecht.»

913 Organ­spen­der im vergan­ge­nem Jahr

In Deutsch­land sind 2020 mehr als 700 Menschen gestor­ben, denen mit einer Organ­spen­de hätte gehol­fen werden können. Es gab aber nicht genug Organe. Die Deutsche Stiftung Organ­trans­plan­ta­ti­on (DSO) ist dennoch froh, dass die Pande­mie die Organ­spen­de in Deutsch­land nicht noch weiter ans Limit gebracht hat. Trotz der zeitwei­sen Überlas­tung der Inten­siv­sta­tio­nen haben nach den DSO-Zahlen im vergan­ge­nen Jahr 913 Menschen nach ihrem Tod ein oder mehre­re Organe gespen­det. Das entspricht 11 Spendern pro einer Milli­on Einwoh­ner, fast genau­so vielen wie 2019. Noch zwei Jahre zuvor lag der Wert bei 9,7. Das hing wohl auch mit dem deutschen Organ­spen­de­skan­dal zusam­men. An mehre­ren Klini­ken waren 2012 Manipu­la­tio­nen an Kranken­ak­ten aufge­deckt worden. Ärzte hatten ihre Patien­ten auf dem Papier kränker gemacht als sie waren, damit sie auf den Warte­lis­ten für Organe weiter nach oben rückten.

Mit der Aufar­bei­tung des Skandals fiel mehr Licht auf ein Dilem­ma: Weniger als ein Prozent der Sterben­den in Deutsch­land kommen überhaupt für eine Organ­spen­de in Frage. Und von ihnen hat nur ein Bruch­teil einen Ausweis. Eine Befra­gung im Auftrag der Bundes­zen­tra­le für gesund­heit­li­che Aufklä­rung (BZgA) zeigt, dass immer mehr Menschen ihre Entschei­dung über eine Organ- und Gewebe­spen­de nach dem Tod schrift­lich festhal­ten. 44 Prozent der Befrag­ten gaben demnach 2020 an, ihre Entschei­dung dokumen­tiert zu haben — in einem Organ­spen­de­aus­weis, einer Patien­ten­ver­fü­gung und beiden Dokumen­ten. Im Jahr 2012 habe der entspre­chen­de Anteil noch bei 26 Prozent gelegen, erklär­te die Bundeszentrale.

In Deutsch­land gilt weiter­hin Zustimmungslösung

Noch immer aber sind es zu wenige Bundes­bür­ger, die ihren Willen zur Organ­spen­de dokumen­tie­ren. Das bleibt die Krux der Zustim­mungs­lö­sung, die der Bundes­tag vor zwei Jahren erneut festge­schrie­ben hat. Im März 2022 soll als weite­rer Baustein das Gesetz zur Stärkung der Entschei­dungs­be­reit­schaft in Kraft treten. Dann sollen zum Beispiel auch Hausärz­te und Fahrschu­len das Thema Organ­spen­de aktiv anspre­chen. Es soll ein Online-Regis­ter geben, in das jeder seinen Willen eintra­gen oder auch wieder ändern kann. Jeder könne von einen Tag auf den anderen ein Spender­or­gan benöti­gen, sagt Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­ter Jens Spahn (CDU). «Ich finde, allein aus dieser Erkennt­nis heraus gibt es auch zumin­dest so etwas wie eine morali­sche Verpflich­tung, sich mit der Frage zu beschäftigen.»

Wolfgang Wachs hat im Febru­ar 2018 im zweiten Anlauf eine neue Lunge bekom­men. Ein Jahr später machte er als Arzt eine Fortbil­dung zum Trans­plan­ta­ti­ons­be­auf­trag­ten. «Es war der Wunsch, für mein Geschenk eine Art Dank an die Gesell­schaft zurückzugeben.»

Berichts­pflicht für Entnahmekliniken

Trans­plan­ta­ti­ons­be­auf­trag­te sind Medizi­ner, die mit dem Start eines neuen Geset­zes 2019 in Klini­ken mit Inten­siv­bet­ten freige­stellt werden sollen. Ihre Aufga­be ist es, mögli­che Organ­spen­der zu erken­nen sowie Abläu­fe festzu­le­gen und zu beglei­ten. In Deutsch­land hat das vorher nicht immer gut funktio­niert. Nur die Hälfte der damals bundes­weit rund 1300 Entnah­me­kli­ni­ken, die von den Bundes­län­dern bestimmt werden, melde­ten sich bei der DSO. Nun gibt es eine Berichts­pflicht dieser Klini­ken. Sie müssen dokumen­tie­ren, warum ein Gestor­be­ner nicht für eine Organ­spen­de in Betracht kam und zum Beispiel keine Hirntod­dia­gnos­tik gemacht wurde.

Seitdem stieg die Zahl der Organ­spen­der bis März 2020 in Deutsch­land überdurch­schnitt­lich an. Dann kam die Pande­mie. Die Zahlen gingen wieder zurück. Insge­samt blieben sie im Vergleich zu anderen europäi­schen Ländern, deren Inten­siv­me­di­zin durch die Corona-Wellen noch weit mehr beansprucht wurde, aber stabil.

Lungen­trans­plan­tier­ter Wachs musste Arbeit aufgeben

Wolfgang Wachs war enttäuscht, als er auf seine ersten Bewer­bun­gen als Trans­plan­ta­ti­ons­be­auf­rag­ter keine Antwor­ten erhielt. Dann war in der Pande­mie schnell klar, dass ein Lungen­trans­plan­tier­ter nicht mehr in einer Klinik arbei­ten kann. Inzwi­schen ist er zweimal gegen Corona geimpft. Doch Hoffnung, wieder als Medizi­ner arbei­ten zu können, hat er mit 63 Jahren wenig. «Meine Arbeit fehlt mir sehr», sagt er.

Wachs hat einen Brief geschrie­ben. Wohl den schwie­rigs­ten seines Lebens, sagt er. Er schrieb an Menschen, die er nicht kennen kann, die Familie «seines» Spenders. Die DSO hat diesen Brief weiter­ge­lei­tet, Namen oder Adres­se erfah­ren Trans­plan­tier­te nicht. Angehö­ri­ge von Organ­spen­dern können antwor­ten. Bei Wolfgang Wachs haben sie geschwie­gen. «Das muss ich akzep­tie­ren», sagt er.

Von Ulrike von Leszc­zyn­ski, dpa