BERLIN (dpa) — Wann wird aus einem Mann, der am Rande der Gesell­schaft lebt, eine ticken­de Zeitbom­be? Lassen sich Gewalt­ta­ten wie der Messer­an­griff in einem Zug in Norddeutsch­land verhin­dern? Oft bleibt das Motiv diffus.

Die tödli­che Messer­at­ta­cke in einem Regio­nal­zug in Schles­wig-Holstein erinnert an ähnli­che Blutta­ten der vergan­ge­nen Jahre. In einigen dieser Fälle spiel­ten psychi­sche Erkran­kun­gen eine Rolle, in anderen eine islamis­ti­sche Ideolo­gie — oder auch beides zusam­men. Manch­mal blieb das Motiv diffus.

Die Täter sind oft Menschen, die als Asylbe­wer­ber nach Deutsch­land gekom­men sind, ohne in ihrer neuen Umgebung richtig Fuß zu fassen. Es sind Menschen am Rande der Gesell­schaft, die mit den für andere Schutz­su­chen­de passen­den standard­mä­ßi­gen Integra­ti­ons­an­ge­bo­ten nicht erreicht werden, die durch Gewalt­tä­tig­keit auffal­len und oft auch nach Jahren in öffent­li­chen Einrich­tun­gen leben.

Die Opfer sind Fahrgäs­te, schein­bar wahllos ausge­wähl­te Passan­ten. Es sind Menschen, deren Lebens­ge­schich­te und Namen der in der Regel männli­che Täter nicht kennt.

Mehre­re Fälle in den vergan­ge­nen Jahren

Nicht nur der staaten­lo­se Paläs­ti­nen­ser, der am Mittwoch in einem Zug zwei ihm offen­sicht­lich unbekann­te junge Menschen getötet und fünf weite­re Fahrgäs­te verletzt hat, ist so ein Fall. Wegen mehre­rer Straf­ta­ten saß er im Gefäng­nis. 2021 erhielt er Hausver­bot in einer Kieler Gemeinschaftsunterkunft.

Auch der junge, psychisch kranke Somali­er, der im Sommer 2021 — etwa sechs Jahre nach seiner Ankunft in Deutsch­land — in Würzburg drei Frauen erstach, war bereits zuvor gewalt­tä­tig gewor­den, lebte zuletzt in einer Obdach­lo­sen­un­ter­kunft. Wie der radika­le Islamist, der im Oktober 2020 in Dresden ein schwu­les Paar attackier­te und einen der beiden Männer tötete, war auch der Angrei­fer aus dem Regio­nal­zug erst kurz vor der Tat aus der Haft entlas­sen worden.

Enttäusch­te Hoffnungen?

Schaut man die Biogra­fien der Täter an, so fällt auf, dass viele von ihnen aus Kriegs- oder Konflikt­re­gio­nen stammen, eher jung und kinder­los sind, zum Zeitpunkt der Tat keiner Erwerbs­tä­tig­keit nachgin­gen und nicht mit einer Partne­rin oder Angehö­ri­gen zusam­men­le­ben. Fundier­te Forschung zu dieser Täter­grup­pe gibt es aber bislang — mit Ausnah­me der Betrach­tung islamis­tisch motivier­ter Verbre­chen — kaum. Beispiels­wei­se zu der Frage­stel­lung, mit welchen Hoffnun­gen und Vorstel­lun­gen die Betrof­fe­nen gekom­men sind — und wie sie später auf die deutsche Gesell­schaft und die Möglich­kei­ten, die sie ihnen bietet oder auch nicht bietet, blicken. Auch das bundes­wei­te Lagebild zur Krimi­na­li­tät im Kontext von Zuwan­de­rung hilft hier nicht viel weiter.

Einsam­keit oder Isola­ti­on sei grund­sätz­lich ein Faktor, sagt der Krimi­no­lo­ge Rafael Behr. Beides könne sowohl krimi­nel­le Energie, die in der Sozia­li­sa­ti­on des Täters begrün­det sei, verstär­ken als auch psychi­sche Proble­me. Zudem sei bei Menschen, die nicht in ein familiä­res Umfeld oder einen Freun­des­kreis einge­bun­den seien, das Risiko höher, dass psychi­sche Erkran­kun­gen unent­deckt blieben.

«Integra­ti­on funktio­niert nie hundertprozentig»

Womög­lich sei nach der sogenann­ten Flücht­lings­wel­le von 2015 aber auch die Chance verpasst worden, ausrei­chen­de Ressour­cen für Integra­ti­ons­maß­nah­men zu mobili­sie­ren, anstatt das Geld für mehr Polizei auszu­ge­ben. Gleich­zei­tig müsse allen klar sein: «Integra­ti­on funktio­niert nie hundert­pro­zen­tig», sagt Behr. «Ein paar Randstän­di­ge wird es immer geben.»

Der Tübin­ger Oberbür­ger­meis­ter Boris Palmer kommen­tiert auf seiner Facebook-Seite den Angriff im Zug mit den Worten: «Wer zur Gefahr für ein Land wird, das Hilfe gegen Gefahr leistet, darf nicht bleiben.» Doch in der Praxis ist das oft nicht umzuset­zen. Da gibt es Staaten wie Syrien, in die schon seit Jahren niemand mehr abgescho­ben werden kann. Bei Staaten­lo­sen ist die Situa­ti­on beson­ders kompliziert.

Bei den Behör­den in Nordrhein-Westfa­len, wo der Angrei­fer aus Brokstedt zunächst gewohnt hatte, gab der Festge­nom­me­ne an, er stamme aus dem Gazastrei­fen. «Rückfüh­run­gen in die paläs­ti­nen­si­schen Autono­mie­ge­bie­te waren in der Vergan­gen­heit sehr selten», teilt ein Sprecher des Bundes­in­nen­mi­nis­te­ri­ums auf Anfra­ge mit. Und: «Rückfüh­rungs­mög­lich­kei­ten sind vor dem Hinter­grund der Komple­xi­tät vorab genau zu prüfen.»

Dem Messer­an­g­rei­fer aus dem Regio­nal­zug war 2017 subsi­diä­rer Schutz gewährt worden — jener Schutz also, der greift, wenn weder der Flücht­lings­schutz noch die Asylbe­rech­ti­gung gewährt werden kann und dem Menschen im Herkunfts­land ernst­haf­ter Schaden droht. 2021 war ein Verfah­ren auf Wider­ruf des subsi­diä­ren Schut­zes einge­lei­tet worden. Ob der Grund für dieses Verfah­ren das umfang­rei­che Straf­re­gis­ter des 33-Jähri­gen war, teilten die Behör­den in Schles­wig-Holstein bislang nicht mit.

Von Anne-Beatri­ce Clasmann, dpa