BERLIN/WARSCHAU (dpa) — Vor drei Wochen kamen täglich rund 15.000 Menschen aus der Ukrai­ne nach Deutsch­land. Inzwi­schen zählt der Bund zwischen 5000 und 7000 Flücht­lin­ge pro Tag. Warum kommen weniger?

Der erste große Ansturm ist vorbei. Zwischen dem 5. März und dem 19. März hat die Bundes­po­li­zei täglich mehr als Zehntau­send neu eintref­fen­de Kriegs­flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne gezählt. An manchen Tagen kamen über 15.000 Menschen nach Deutschland.

Inzwi­schen erfasst die Polizei bei ihren Kontrol­len im Grenz­raum pro Tag zwischen 5000 und 7000 Neuan­kömm­lin­ge, vor allem Frauen, Kinder und alte Menschen. Insge­samt hat die Polizei seit Beginn des russi­schen Angriffs­kriegs am 24. Febru­ar rund 300.000 Kriegs­flücht­lin­ge erfasst.

Der leich­te Rückgang bei der Zahl der Flücht­lin­ge aus der Ukrai­ne, die nach Deutsch­land kommen, hat mögli­cher­wei­se mit dem Kriegs­ver­lauf in der Ukrai­ne zu tun — mit Flucht­rou­ten, die versperrt oder zu gefähr­lich sind. Einige Vertrie­be­ne haben wohl auch die Hoffnung auf eine baldi­ge Rückkehr. Das zeigt sich auch, wenn Helfer und Behör­den­ver­tre­ter in Berlin und anderen deutschen Großstäd­ten versu­chen, Flücht­lin­ge zur Weiter­rei­se in andere Kommu­nen zu bewegen, in denen noch mehr Schlaf­plät­ze vorhan­den sind.

Trans­port­ka­pa­zi­tä­ten oft nicht ausgelastet

Viele Geflüch­te­te sagen dann, sie wollten nicht weiter­zie­hen. Die Trans­port­ka­pa­zi­tä­ten, die der Bund zur Verfü­gung stellt, sind deshalb oft nicht ausge­las­tet. Neben dem Wunsch, in einer größe­ren Stadt zu bleiben, wo man sich einen besse­ren Lebens­stan­dard erhofft, spielt hier auch die Überle­gung eine Rolle, von einem Verkehrs­kno­ten­punkt aus — sobald möglich — schnel­ler in die Heimat zurück­keh­ren zu können.

Dieser Wunsch sei verständ­lich, sagt Sebas­ti­an Hartmann, innen­po­li­ti­scher Sprecher der SPD-Bundes­tags­frak­ti­on. Er gehe jedoch davon aus, «dass die Flücht­lin­ge auch dann, wenn ein Waffen­still­stand kommt, nicht gleich zurück­keh­ren werden». Hartmann sagt: «Die Infra­struk­tur ist in der Ukrai­ne vieler­orts schon so stark zerstört, dass wir hier nicht von Monaten reden, sondern von Jahren.» Er wagt keine Progno­se, wie viele Flücht­lin­ge noch kommen werden.

Da Ukrai­ner für 90 Tage visums­frei einrei­sen dürfen, gibt es für sie zunächst keinen Grund, sich bei den Behör­den zu melden. Es sei denn, sie wollen staat­li­che Leistun­gen in Anspruch nehmen, brauchen einen Schul­platz oder wollen arbei­ten. Einen genau­en Überblick über die Zahl der Kriegs­flücht­lin­ge, die sich insge­samt in Deutsch­land aufhal­ten, haben die Behör­den daher bis heute nicht.

Nach 90-Tage-Frist Regis­trie­rung notwendig

Das wird sich aber mittel­fris­tig ändern. Wenn die 90-Tage-Frist nicht verlän­gert wird, muss sich spätes­tens nach Ablauf der drei Monate jeder regis­trie­ren lassen. Wer dann staat­li­che Versor­gung in Anspruch nimmt, wird auch verpflich­tet sein, sich an einem bestimm­ten Ort nieder­zu­las­sen. Einige EU-Bürger aus Rumäni­en oder Bulga­ri­en, die vorge­ben, in der Ukrai­ne gelebt zu haben, um in Deutsch­land staat­li­che Leistun­gen zu erhal­ten, sind der Polizei bereits aufge­fal­len. Ein Massen­phä­no­men ist das aber wohl nicht.

Aus der Ukrai­ne nach Polen kamen zuletzt ebenfalls weniger Geflüch­te­te. Wenn man sich die Zahlen des polni­schen Grenz­schut­zes ansieht, die regel­mä­ßig bei Twitter erschei­nen, erkennt man einen Rückgang der Zahl der tägli­chen Neuan­kömm­lin­ge an der Grenze zur Ukrai­ne von fast 30.000 im Durch­schnitt zwischen 18. und 25. März auf rund 26.000 zwischen 26. März und 1. April, wobei es von Tag zu Tag deutli­che Schwan­kun­gen gibt. Das polni­sche Eisen­bahn­un­ter­neh­men PKP Inter­ci­ty teilt mit, die Zahl der Fahrgäs­te aus der Ukrai­ne sei in den vergan­ge­nen Tagen zurückgegangen.

Mehr als 2,4 Millio­nen Menschen aus der Ukrai­ne haben seit Beginn der russi­schen Invasi­on vor mehr als einem Monat die Grenze zum Nachbar­land Polen überschrit­ten. Offizi­el­le Angaben dazu, wie viele Kriegs­flücht­lin­ge in Polen bleiben und wie viele in andere EU-Staaten weiter­rei­sen, gibt es nicht. So haben in Tsche­chi­en bereits mehr als 250 000 Ukrai­ne-Flücht­lin­ge eine Aufent­halts­er­laub­nis erhal­ten, von denen die meisten über Polen einge­reist sein dürften. Auch über Öster­reich kamen zuletzt viele Kriegs­flücht­lin­ge nach Deutschland.

Drehkreu­ze sind Berlin, Hanno­ver und Cottbus

Die meisten Geflüch­te­ten kommen mit dem Zug in den Drehkreu­zen Berlin, Hanno­ver und verein­zelt auch in Cottbus an. So trafen in Berlin am Donners­tag laut Senats­ver­wal­tung für Sozia­les rund 3500 Geflüch­te­te per Zug und Bus ein. Das waren zwar etwas mehr als am Mittwoch mit rund 3000 Menschen, doch am 7. März zählte Berlin noch 13.000 pro Tag, am 15. März 7500. Am Messe­bahn­hof Laatzen bei Hanno­ver kamen laut Innen­mi­nis­te­ri­um zwischen dem 24. und 31. März bis zu 600 Flücht­lin­ge pro Tag an, in der Woche davor waren es noch bis zu 800 pro Tag. In Spitzen­zei­ten waren es mehr als 1000 täglich.

Um vor allem die Haupt­stadt zu entlas­ten, gibt es seit mehr als einer Woche das dritte Drehkreuz Cottbus in Branden­burg. Dort trafen zunächst nur Sonder­zü­ge aus Breslau ein. Die Zahl der Ukrai­ne-Flücht­lin­ge ist dort deutlich niedri­ger als in Berlin oder Hannover/Laatzen: Die Bundes­po­li­zei stell­te nach eigenen Angaben in 13 Zugver­bin­dun­gen vom 23. bis 27. März insge­samt 665 Menschen aus der Ukrai­ne am dorti­gen Bahnhof fest. «Die Auslas­tung ist gerin­ger als vorge­plant», sagt eine Sprecherin.

Branden­burgs Europa­mi­nis­te­rin Katrin Lange (SPD) vermu­tet, dass viele Flücht­lin­ge nicht über Breslau nach Cottbus reisen, weil sie nicht wissen, dass sie von dort weiter­fah­ren können. Deshalb sollen nun die Infor­ma­tio­nen für Geflüch­te­te verbes­sert werden. «Damit die Ukrai­ner wissen, dass es von Cottbus weiter­geht», sagt Lange nach einem Besuch in Breslau. Die meisten Kriegs­flücht­lin­ge kommen jedoch nach wie vor in Berlin an — auch wenn es weniger sind als noch vor einigen Tagen.

Von Anne-Beatri­ce Clasmann, Oliver von Riegen und Micha­el Heitmann, dpa