BERLIN (dpa) — Einen Monat durch Europa reisen — mit dem Rucksack als Kopfkis­sen und der Bahnhofs­hal­le als Schlaf­zim­mer. Das Inter­rail-Ticket war für Genera­tio­nen von Teenagern ein Tor zur Welt. Was ist passiert?

Als vor 50 Jahren ein unschein­ba­res Stück Papier auf dem Reise­markt auftauch­te, ahnte vermut­lich niemand, dass es Europas Jugend nachhal­tig verän­dern sollte.

Das sogenann­te Inter­rail-Ticket wurde einge­führt — und damit die Möglich­keit für Menschen bis 21, einen ganzen Monat zum Pauschal­preis von 235 Mark kreuz und quer durch Europa zu reisen. Ihrem Freiheits­drang auf den Schie­nen folgend, verbrach­ten seither Genera­tio­nen von Teenagern ihre Sommer­fe­ri­en in Zugab­tei­len und Bahnhofs­hal­len. Anfangs ohne Handy, ohne Inter­net und ohne reser­vier­te Sitzplätze.

Sparta­ni­sche Umstände

Tausen­de Kilome­ter legten Jugend­li­che auf diese Weise zurück und rebel­lier­ten dabei gleich­zei­tig gegen spießi­ge Famili­en­ur­lau­be in Bunga­lows, auf Camping­plät­zen und an Badeseen. Der Öster­rei­cher Werner Schrö­ter zählte 1975 am Ende seines Vier-Wochen-Trips — unter anderem durch Frank­reich, England und Skandi­na­vi­en — rund 10.000 Kilome­ter, wie er erzählt.

«Das Essen war sparta­nisch: Einkauf in Lebens­mit­tel­ge­schäf­ten, selten ein Lokal­be­such», erinnert sich Schrö­ter 47 Jahre später. Es sei das erste Mal gewesen, dass der damals 21-Jähri­ge so viele Kultu­ren kennen­ge­lernt habe, davor sei er fast nur in Öster­reich unter­wegs gewesen.

Die gebür­ti­ge Saarlän­de­rin Elke Tesche war 18 Jahre alt, als sie 1984 mit einer Freun­din zu ihrer ersten Inter­rail-Reise nach Griechen­land aufbrach. Über Paris und Zagreb ging es ins nordgrie­chi­sche Thessa­lo­ni­ki und von dort weiter gen Süden. Die Inter­rail-Fahrt prägte ihre Persön­lich­keit: «Dadurch, dass ich auf dieser Reise viele Menschen aus anderen Ländern und Kultu­ren traf, bin ich offener, toleran­ter und kontakt­freu­di­ger gewor­den», sagt Tesche, die heute in Berlin lebt und den Reise­blog «Elkeun­ter­wegs» betreibt.

Unkom­pli­zier­te Ortswechsel

Vieles am Inter­rail-Reisen sei neu und beson­ders gewesen: etwa das eigen­ver­ant­wort­li­che Organi­sie­ren von Reise­rou­ten, Unter­künf­ten und Essen, das Weiter­kom­men in Gegen­den ohne Zugan­bin­dung, die Eintei­lung des Geldes, die Verstän­di­gung mit Menschen in abgele­ge­nen Dörfern.

Beson­ders genoss Tesche das Gefühl der Sponta­nei­tät und Freiheit. Als sie eines Tages am Bahnhof von Marseil­le ankam und es ihr dort nicht gefiel, stieg sie in den nächs­ten Zug, ohne zu wissen, wo genau der sie hinfüh­ren würde. «Ich lande­te dann in Toulou­se und fand es toll dort.»

Auch Beate Bande­lin aus Berlin schätz­te die Möglich­keit, ganz unkom­pli­ziert den Ort zu wechseln, wenn es ihr irgend­wo nicht gefiel. «Das machte das ganze entspann­ter als bei festge­leg­ten Bahnti­ckets. Fahrt einschrei­ben und los gehts, das war eine reizvol­le Option», erinnert sich die heute 59-Jähri­ge an ihre Inter­rail-Fahrt durch England und Dänemark im April 1980.

Grandio­se Idee

Aber wie kam es zu der folgen­schwe­ren Neuerung auf dem europäi­schen Reise­markt? 1972 führten mehre­re europäi­sche Eisen­bahn­ge­sell­schaf­ten das Inter­rail-Ticket ein, um jungen Europä­ern die Chance zu geben, 21 Länder mit nur einem Ticket zu berei­sen, wie es in einer Broschü­re des Unter­neh­mens Eurail heißt. «Die Idee dahin­ter ist natür­lich grandi­os gewesen», sagt der Leiter des Histo­ri­schen Archivs zum Touris­mus der TU Berlin, Hasso Spode. Das Inter­rail-Ticket habe bei jungen Menschen ein Gefühl für Europa entwi­ckelt. «Auch wenn die jungen Leute nix anderes gesehen haben als Bahnhö­fe», fügt der Histo­ri­ker schmun­zelnd hinzu.

Anfangs nur für Jugend­li­che bis 21 Jahre, wird die Alters­gren­ze später schritt­wei­se angeho­ben, bis das Ticket im Jahr 1998 für alle zugäng­lich wird. Inzwi­schen können Reisen­de mit den Inter­rail- und Eurail-Tickets durch mehr als 30 Länder fahren.

Zerstör­te Spontaneität

Vom sponta­nen Zustei­gen der Anfangs­ta­ge ist aller­dings nicht mehr viel geblie­ben. Die Reise­rou­te kann man sich inzwi­schen per App auf dem Handy anzei­gen lassen, manche Fahrten sind nur mit Reser­vie­rung möglich. Ein-Land-Tickets sind ebenso verfüg­bar wie Erste-Klasse-Fahrschei­ne und Zwei- bezie­hungs­wei­se Drei-Monats-Tickets.

«Wenn man wirklich die alte Art des Reisens erleben will, dann sollte man auf den Jakobs­weg gehen», sagt Spode. Das Grund­ide­al nach dem Motto «Sehen, wo man landet» gebe es bei Reisen via Inter­rail zwar immer noch. Aber: «Die neuen Kommu­ni­ka­ti­ons­mit­tel zerstö­ren jegli­che Sponta­nei­tät», so der Experte.

Im März feier­te das Inter­rail-Ticket seinen 50. Geburts­tag. Sponta­nes Reisen wurde aber lange vor der Erfin­dung des legen­dä­ren Fahrscheins geschätzt, wie ein Blick in die Weltli­te­ra­tur zeigt. In Joseph von Eichen­dorffs fast 200 Jahre altem Klassi­ker «Aus dem Leben eines Tauge­nichts» sinniert der Waldhor­nist darüber, was das Schöns­te an dieser Art des Unter­wegs-Seins ist: «dass wir gar nicht wissen, welcher Schorn­stein heut für uns raucht, und gar nicht voraus­se­hen, was uns bis zum Abend noch für ein beson­de­res Glück begeg­nen kann».

Dieses Ideal werde zwar auch in Zeiten des Inter­nets nicht ausster­ben, vermu­tet Spode. Gleich­wohl ist sich der Exper­te sicher: «Es wird margi­na­li­siert werden.»

Von Taylan Gökalp, dpa