BERLIN (dpa) — Seit dem Frühjahr 2020 fühlt es sich oft an, als sei man selbst in einem Roman gelan­det — dessen Ende noch offen ist. Autorin­nen und Autoren verar­bei­ten die Pande­mie schrei­bend, doch nicht alle Menschen wollen Romane über Corona lesen.

Die Corona-Zeit verän­dert auch die deutsch­spra­chi­ge Litera­tur. Schrift­stel­le­rin­nen und Schrift­stel­lern bieten diese Monate der Unsicher­heit und des Wandels viel Stoff — manch­mal können sie gar nicht anders, als ihre Figuren auch mit der Pande­mie zu konfrontieren.

Längst sind erste Corona-Romane erschie­nen, Verla­ge regis­trie­ren Verän­de­run­gen bei einge­reich­ten Manuskrip­ten — manche bemer­ken gleich­zei­tig bei den Leserin­nen und Lesern einen Trend hin zu eskapis­ti­scher Lektüre.

«Litera­tur ist ja immer auch eine Möglich­keit, sich mit der Welt, wie sie so ist, ausein­an­der­zu­set­zen und da unsere Welt jetzt schon viele Monate so virus­be­stimmt ist, bahnt sich die Pande­mie mehr oder weniger direkt ihre Wege in die verschie­de­nen Texte», sagt die Verlags­lei­te­rin Belle­tris­tik bei Ullstein, Diana Stübs. Sie beobach­tet dabei zwei Ausprä­gun­gen: «Zum einen Manuskrip­te, die sich vor der Gegen­wart zurück­zie­hen, also zum Beispiel histo­ri­sche Stoffe zum Gegen­stand haben oder sich nach Innen wenden. Und jene, die eine Welt herbei­fa­bu­lie­ren, wie sie einmal wird. Vielleicht.»

Manche Verla­ge hätten das Glück gehabt, einen passen­den Titel im Reper­toire zu haben, sagt der Programm­lei­ter Rowohlt Hundert Augen, Marcus Gärtner. Für Rowohlt sei «Die Pest» von Albert Camus zum unerwar­te­ten Bestsel­ler über Monate hinweg geworden.

Autorin Juli Zeh sagt in einem Inter­view des Luchter­hand Verlags, sie habe die erste Fassung ihres aktuel­len Buches «Über Menschen» schon geschrie­ben gehabt, als sich die Pande­mie ausge­brei­tet habe. «Für mich war es ausge­schlos­sen, an dem Text weiter­zu­ar­bei­ten, ohne darauf zu reagie­ren. Deshalb habe ich den Roman ein zweites Mal von Neuem geschrie­ben und die aktuel­len Ereig­nis­se mit einflie­ßen lassen.» Es sei zwar einer­seits ein Wagnis gewesen, so nah an den tägli­chen Entwick­lun­gen zu schrei­ben. Gleich­zei­tig sah sie es als Möglich­keit, «Dinge zu verar­bei­ten, die für uns alle schwer und belas­tend sind».

Zeh lässt ihre Figur Dora während der Corona-Pande­mie von der Stadt aufs Land flüch­ten. Wenn Dora wegen der vielen neuen Begrif­fe wie Social Distancing, exponen­ti­el­les Wachs­tum, Übersterb­lich­keit und Spuck­schutz­schei­be der Kopf schwirrt, dann wissen die Leserin­nen und Leser, wie es ihr geht. Sie kennen das Staunen, die Irrita­ti­on, die Sorge, das Unbeha­gen, die Überfor­de­rung — und werden so automa­tisch selbst zum Teil der Geschichte.

Auch Lekto­rin Silvia Zanovel­lo vom Dioge­nes Verlag sieht bei den Autorin­nen und Autoren das Bedürf­nis, die Pande­mie inhalt­lich zu verar­bei­ten. «Es wird wohl noch lange ein Thema bleiben. Viele Autoren sprechen aber von einer länger­fris­ti­gen Verar­bei­tung des Themas. Viele auch davon, dass es eine gewis­se Distanz braucht, um die Wirkung auf die Gesell­schaft überhaupt künst­le­risch erfas­sen zu können.» Die Menschen greifen in der Corona-Zeit aller­dings auch sehr gern zu thema­tisch anderer Lektü­re. «Das Thema Pande­mie ist im Moment wohl nicht so gesucht in der Belle­tris­tik», heißt es von der Dioge­nes-Lekto­rin. Programm­lei­ter Gärtner (Rowohlt Hundert Augen) sieht bei der Leser­schaft einen Boom eskapis­ti­scher Lektü­ren und Versen­kung in zeitlo­se Themen.

Ein Beispiel aktuel­ler Corona-Litera­tur ist Thea Dorns Erzäh­lung «Trost. Briefe an Max» (Pengu­in Verlag), in der sich die Zerris­sen­heit und Wider­sprüch­lich­keit vieler Menschen wider­spie­gelt. Ihre Figur Johan­na verliert in den Anfän­gen der Pande­mie ihre lebens­fro­he, unver­nünf­tig handeln­de Mutter an das Virus. Nach einer trost­lo­sen Beerdi­gung unter Aufla­gen der Behör­den feiert sie dann selbst ohne Rücksicht auf Verlus­te — teils aus Verzweif­lung, teils aus kindlich anmuten­dem Trotz. Der harte Kern der Gäste liegt sich am Ende volltrun­ken und singend auf einem Balkon in den Armen. Hinter­her spricht Johan­na in einem Brief an ihren alten philo­so­phi­schen Lehrer Max von Selbst­be­trug und Betäubung.

Das reizvol­le Gefühl, brand­ak­tu­el­le Dokumen­te der Zeitge­schich­te vor sich zu haben, geht einher mit einer gewis­sen Unzufrie­den­heit: Man steckt als Leserin oder Leser selbst noch mitten­drin in den Proble­men der Figuren — und ahnt beim Lesen: Weder Juli Zeh noch Thea Dorn haben eine befrie­di­gen­de Lösung auf dem Tisch. Ihre Figuren irren genau­so planlos durch die Pande­mie­welt wie die Leser­schaft, in Mecha­nis­men der Verdrän­gung, des Anneh­mens oder der schein­ba­ren Gleich­gül­tig­keit — allen gemein­sam ist aber ein großes Fragezeichen.

Welche Spuren die Corona-Zeit langfris­tig in der deutsch­spra­chi­gen Litera­tur hinter­lässt, wird sich zeigen. Stübs vom Ullstein-Verlag sagt: «Es fällt mir sehr schwer, einzu­schät­zen, ob diese Pande­mie so prägend sein wird wie zum Beispiel die Wende oder ob sie, wenn das, was wir “Norma­li­tät” nennen, irgend­wann wieder Einzug gehal­ten haben wird, schnell verges­sen sein wird.» Sie gehe aber davon aus, dass einige Verhal­tens­wei­sen wie notori­sches Abstand­hal­ten noch sehr lange bleiben werden — «und damit auch in Texte einwandern.»

Von Chris­ti­ne Corne­li­us, dpa