RAVENSBURG/MEXIKO-STADT (dpa) — Die Auslie­fe­rung von Winne­tou-Büchern wird gestoppt, weiße Reggae-Musiker mit Dread­locks sollen nicht mehr auftre­ten. Immer wieder ist in den Debat­ten von kultu­rel­ler Aneig­nung die Rede. Aber was ist das eigentlich?

«Der junge Häupt­ling Winne­tou» sorgt dieser Tage für ordent­lich Aufse­hen und erhitz­te Gemüter — vor allem in den Sozia­len Medien.

Der Grund: Die Firma Ravens­bur­ger hatte entschie­den, mehre­re Kinder­bü­cher wegen Rassis­mus-Vorwür­fen aus dem Verkauf zu nehmen. Hunder­te Insta­gram-Nutzer äußer­ten darauf­hin ihr Unver­ständ­nis und bezich­tig­ten die Firma der Zensur oder des Einkni­ckens. Daneben gab es auch Unter­stüt­zung für die Entscheidung.

Die vor allem für ihre Spiele und Puzzle bekann­te Firma aus Ravens­burg hatte Mitte August angekün­digt, die Auslie­fe­rung der beiden Bücher «Der junge Häupt­ling Winne­tou» zu stoppen und aus dem Programm zu nehmen. In einem Insta­gram-Post begrün­de­te die Firma dies mit dem Feedback der Nutzer, das gezeigt habe, «dass wir mit den Winne­tou-Titeln die Gefüh­le anderer verletzt haben».

«Roman­ti­sie­ren­des Bild mit vielen Klischees»

Ein Sprecher von Ravens­bur­ger teilte am Montag auf Anfra­ge mit, man habe die Entschei­dung sorgfäl­tig abgewo­gen. Bei den genann­ten Winne­tou-Titeln sei man nach Abwägung verschie­de­ner Argumen­te zu der Überzeu­gung gelangt, dass angesichts der geschicht­li­chen Wirklich­keit, der Unter­drü­ckung der indige­nen Bevöl­ke­rung, hier ein «roman­ti­sie­ren­des Bild mit vielen Klischees» gezeich­net werde. Die Kritik hatte sich zunächst vor allem an der gleich­na­mi­gen Verfil­mung entzün­det, weil der Film rassis­ti­sche Vorur­tei­le bedie­ne und eine kolonia­lis­ti­sche Erzähl­wei­se nutze. Der Film kam am 11. August in die Kinos.

Immer wieder ist in der aktuel­len Debat­te auch von kultu­rel­ler Aneig­nung die Rede. Auch Ravens­bur­ger selbst spricht davon in seinem Insta­gram-Post: «Unsere Redakteur*innen beschäf­ti­gen sich inten­siv mit Themen wie Diver­si­tät oder kultu­rel­ler Aneig­nung», heißt es dort. Aber was ist das eigentlich?

Mit kultu­rel­ler Aneig­nung ist gemeint, dass Menschen sich einer Kultur bedie­nen, die nicht ihre eigene ist, zum Beispiel durch Musik oder Beklei­dung. Kriti­siert wird vor allem, wenn Mitglie­der der Mehrheits­ge­sell­schaft sich einzel­ner Elemen­te der Kultur einer Minder­heit bemäch­ti­gen, sie kommer­zia­li­sie­ren und aus dem Zusam­men­hang reißen.

Jüngs­tes Beispiel: In Bern wurde ein Konzert der Band Lauwarm abgebro­chen, weil sich einige Besucher daran störten, dass sie jamai­ka­ni­sche Musik spiel­te und die weißen Mitglie­der der Band teils afrika­ni­sche Kleidung und Dread­locks trugen. Zuvor hatte die Bewegung Fridays for Future die weiße Musike­rin Ronja Maltzahn, die bei einer Demons­tra­ti­on in Hanno­ver auftre­ten sollte, wegen ihrer Dread­locks ausgeladen.

Wem gehört die Kultur?

Während die Debat­te im deutsch­spra­chi­gen Raum noch relativ neu ist, tobt sie in den USA schon seit Jahren. Die US-Juris­tin Susan Scafi­di schreibt in ihrem Buch «Who Owns Cultu­re?» aus dem Jahr 2005: «Kultu­rel­le Aneig­nung, das ist: Wenn man sich bei dem intel­lek­tu­el­len Eigen­tum, dem tradi­tio­nel­len Wissen, den kultu­rel­len Ausdrü­cken oder Artefak­ten von jemand anderem bedient, um damit den eigenen Geschmack zu bedie­nen, die eigene Indivi­dua­li­tät auszu­drü­cken oder schlicht­weg: um daraus Profit zu schlagen.»

In Mexiko gibt es nun sogar ein Gesetz, um das zu verhin­dern. Wer kultu­rel­les Erbe ohne Zustim­mung repro­du­ziert, kopiert oder imitiert, kann künftig mit hohen Geldstra­fen oder sogar bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Dadurch soll das kollek­ti­ve geisti­ge Eigen­tum der Urvöl­ker geschützt werden, was inter­na­tio­nal nicht einfach durch­zu­set­zen ist. Luxus­mo­de­mar­ken wie Caroli­na Herrera und Louis Vuitton sowie globa­le Fast-Fashion-Ketten hatten zuvor mehrmals die Muster indige­ner Texti­li­en für ihre Produk­te kopiert – ohne Abspra­che mit den Gemein­den und ohne Zahlung.

Die deutsche Ethno­lo­gin Susan­ne Schrö­ter findet die Diskus­si­on um kultu­rel­le Aneig­nung, wie sie derzeit geführt wird, proble­ma­tisch. «Die Skanda­li­sie­rung der kultu­rel­len Aneig­nun­gen weist eine Reihe von Absur­di­tä­ten auf. Eine betrifft die Folgen, die sich ergeben, wenn man die gefor­der­ten Nutzungs­be­schrän­kun­gen zu Ende denkt. Dann müssten bei jedem Gegen­stand, jedem Stil, jeder Form kultu­rel­len Ausdrucks die Urheber ausfin­dig gemacht und ihr Gebrauch auf diese Urheber beschränkt werden», sagt die Profes­so­rin der Frank­fur­ter Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Kultu­rel­le Aneig­nung ist für die Wissen­schaft­le­rin grund­sätz­lich eher etwas Positi­ves. «Menschen haben stets Dinge von anderen übernom­men, wenn sie diese für sinnvoll erach­tet haben. Um es auf den Punkt zu bringen, ist die gesam­te Mensch­heits­ge­schich­te eine Geschich­te kultu­rel­ler Aneig­nun­gen, ohne die es keine Entwick­lung gegeben hätte», sagt Schrö­ter. «Dazu kommt, dass Aneig­nung stets eine gewis­se Wertschät­zung beinhal­tet. Wenn man eine Gruppe von Menschen zutiefst ablehnt, wird man von ihnen nichts überneh­men. In einer Welt, die allein durch die sich beschleu­ni­gen­de Globa­li­sie­rung immer vielfäl­ti­ger wird, ist kultu­rel­le Aneig­nung wohl die wichtigs­te Kultur­tech­nik, die ein fried­li­ches Zusam­men­wach­sen möglich macht.»

Von Andrea Sosa, Denis Düttmann und Sebas­ti­an Schlen­ker, dpa