BERLIN (dpa) — Wie geht es weiter mit der Pande­mie? Chari­té-Virolo­ge Chris­ti­an Drosten plädiert mit Blick auf Herbst und Winter für eine Anpas­sung der Progno­sen an die Reali­tät — sonst stünden sie auf dünnem Eis.

Die vierte Pande­mie-Welle hat Fahrt aufge­nom­men: Deutsch­land startet mit einer deutlich höheren Zahl tägli­cher Corona-Neuin­fek­tio­nen in den Herbst als im Vorjahr.

Zwar gibt es eine wachsen­de Impfquo­te von derzeit rund 60 Prozent und Risiko­grup­pen sind weitge­hend geschützt — doch reicht das, um ohne neue Einschrän­kun­gen durch den Winter zu kommen? Wie wird das anste­hen­de Winter­halb­jahr, wie das Frühjahr — und haben die bishe­ri­gen Progno­se­mo­del­le des Robert Koch-Insti­tuts (RKI) noch Bestand?

Aus Sicht des Berli­ner Virolo­gen Chris­ti­an Drosten sollte das bishe­ri­ge RKI-Szena­rio überar­bei­tet werden. Denn die Delta-Varian­te, die in Deutsch­land inzwi­schen vollstän­dig dominiert, hat die Lage grund­le­gend verän­dert. Würde die RKI-Model­lie­rung nicht entspre­chend dieser verän­der­ten Lage aktua­li­siert, stünde die Einschät­zung und Planung für den Herbst und Winter wissen­schaft­lich auf «dünnem Eis», sagte Drosten der Deutschen Presse-Agentur.

Optimis­mus für das Frühjahr

Im Herbst würden die Infek­ti­ons­zah­len noch einmal steigen, prognos­ti­zier­te der Chef der Kassen­ärzt­li­chen Bundes­ver­ei­ni­gung (KBV), Andre­as Gassen, am Donners­tag. Die Zahl schwe­rer Erkran­kun­gen werde aller­dings deutlich unter der des vergan­ge­nen Winters bleiben. Für das Frühjahr ist Gassen sehr optimis­tisch. «Bis dahin wird die Impfquo­te noch einmal etwas höher liegen, vor allem nimmt aber auch die Zahl der Genese­nen mit Antikör­pern zu.» Einschrän­kun­gen würden dann wohl gänzlich unnötig werden, sagte er. «Ich gehe davon aus, dass im Frühjahr 2022 Schluss sein wird mit Corona.» Doch lässt sich das tatsäch­lich schon sagen?

In seiner jüngs­ten Einschät­zung im Juli war auch das RKI noch optimis­tisch, dass bei Errei­chen bestimm­ter Impfquo­ten eine vierte Welle vermie­den werden könne. Nach der damals entwor­fe­nen Model­lie­rung müssen mindes­tens 85 Prozent der 18- bis 59-Jähri­gen und 90 Prozent der Senio­ren ab 60 Jahren vollstän­dig geimpft sein, damit eine ausge­präg­te neue Welle mit vollen Inten­siv­sta­tio­nen im Herbst und Winter unwahr­schein­lich wird.

Delta-Varian­te noch nicht voll berücksichtigt

Das RKI-Papier beruh­te aller­dings auf damals noch unvoll­stän­di­gen Infor­ma­tio­nen zur Delta-Varian­te. Inzwi­schen liegen verläss­li­che Daten über die nachweis­lich erhöh­te Übertra­gung und auch die anstei­gen­de Hospi­ta­li­sie­rungs­ra­te vor. Vor allem aber machte das RKI in dem Modell Annah­men über das Fortschrei­ten der Impfquo­te in Deutsch­land, die schon jetzt nicht mehr zutref­fen — selbst wenn die Impfmög­lich­keit der über 12-jähri­gen Kinder jüngst einbe­zo­gen wurde.

Man müsse die RKI-Analy­se nun zeitnah aktua­li­sie­ren, sagte Drosten. «Man sollte sich nicht täuschen und durch zu wenig Vorsicht in eine Situa­ti­on hinein­lau­fen, die man sich nicht wünscht und die untrag­bar ist: Dass es weite­re Lockdowns gibt und die Schulen wieder schlie­ßen müssen.»

Aufgrund von Delta könne niemand mehr mit voller Gewiss­heit sagen, dass selbst bei Errei­chen bestimm­ter Impfquo­ten eine vierte Welle vermie­den werden könne, ergänz­te Drosten. Sars-CoV‑2 habe sich nun schon mehrmals anders verhal­ten als zunächst von einem Corona­vi­rus erwar­tet. «Alpha und Delta waren absolu­te Überra­schun­gen.» Mit so massi­ven Steige­run­gen der Übertra­gungs­ra­te habe kein Virolo­ge gerech­net. «Das hat es bisher bei keinem anderen Virus gegeben.» Von den höheren Anste­ckungs­ra­ten seien die anfäng­li­chen Grund­an­nah­men der Impfstra­te­gie — wie 75 Prozent Impfquo­te als für eine Herden­im­mu­ni­tät ausrei­chen­des Ziel — bereits erschüt­tert worden.

Impfquo­ten in Deutsch­land nur mäßig

«Man kann sich da schon rausimp­fen», sagte Drosten am Donners­tag im Deutsch­land­funk. Bisher blieben die deutschen Quoten aber zum Beispiel im Vergleich zu England deutlich zurück. 61 Prozent vollstän­dig Geimpf­ter reich­ten überhaupt nicht. «Mit dieser Quote können wir nicht in den Herbst gehen», sagte Drosten dem Sender.

Für ihn gibt es noch einen wenig beach­te­ten weite­ren Faktor bei der Beurtei­lung des kommen­den Pande­mie­ver­laufs: Die Virus­last im Hals von Geimpf­ten bei einer Anste­ckung steigt wieder, wenn die Impfung einige Monate her ist. «Sie haben den Erreger nur kurz, aber mit hoher Virus­last im Hals», erklär­te der Virolo­ge. Entspre­chend steige mit zuneh­men­dem Abstand zur Impfung das Risiko, dass Geimpf­te das Virus an andere weiter­ge­ben. Letzt­lich werde sich unter anderem aus diesem Grund jeder Mensch infizieren.

Corona wird uns noch einige Jahre begleiten

Stand jetzt sei davon auszu­ge­hen, dass es noch einige Jahre lang ein starkes Infek­ti­ons­ge­sche­hen unter Erwach­se­nen geben werde, prognos­ti­zier­te Drosten. Für Geimpf­te ohne Risiko­fak­to­ren sei das nicht weiter schlimm, weil die Erkran­kung bei ihnen dann einer Erkäl­tung ähnele. Der durch­schnitt­li­che gesun­de Erwach­se­ne müsse sich wahrschein­lich in den kommen­den Jahren mehrmals infizie­ren, um einen länger haltba­ren Schleim­haut­schutz aufzu­bau­en. Der Status «geimpft» erlau­be dies ohne schwe­re Krank­heits- oder Langzeit­fol­gen. «Es ist von einem weitge­hen­den Schutz auch gegen Long Covid durch die Impfung auszu­ge­hen», sagte Drosten. Nicht zu Risiko­grup­pen zählen­de Kinder würden durch die Infek­ti­on selten überhaupt krank.

Der General­se­kre­tär der Deutschen Inter­dis­zi­pli­nä­ren Verei­ni­gung für Inten­siv- und Notfall­me­di­zin (DIVI), Flori­an Hoffmann, rechnet bereits Ende diesen Jahres mit einem Impfstoff für Kinder unter zwölf Jahren. Diese Gruppe werde voraus­sicht­lich eine reduzier­te Impfstoff­do­sis bekom­men, sagte der Kinder­arzt den Zeitun­gen der Funke-Medien­grup­pe (Donners­tag). «Wir gehen fest davon aus, dass es ab kommen­dem Jahr Impfstof­fe für alle Alters­klas­sen geben wird, sogar zugelas­sen bis hin zu Neuge­bo­re­nen.» Die Ständi­ge Impfkom­mis­si­on macht dazu keine Progno­sen. Noch gebe es weder neue Studi­en­ergeb­nis­se der Herstel­ler noch Zulas­sun­gen und ihm sei der Fahrplan dafür auch nicht bekannt, sagte Stiko-Chef Thomas Mertens. Er wolle nicht spekulieren.

Von Gisela Gross und Ulrike von Leszc­zyn­ski, dpa