BERLIN (dpa) — Die absolu­ten Zahlen sind schon so hoch wie 2015/2016: Mehr als 1,1 Millio­nen Menschen haben dieses Jahr schon Zuflucht in Deutsch­land gesucht. Die Kommu­nen schla­gen bei Innen­mi­nis­te­rin Faeser Alarm.

In Dresden wird die Messe als Notun­ter­kunft für Geflüch­te­te vorbe­rei­tet, Leipzig plant Zeltstäd­te, Berlin sieht sich am Limit. Vor dem heuti­gen Flücht­lings­gip­fel bei Bundes­in­nen­mi­nis­te­rin Nancy Faeser (SPD) schla­gen Städte und Gemein­den Alarm. «Die Lage ist aktuell sehr ernst», sagt der Vizeprä­si­dent des Deutschen Städte­tags, Burkhard Jung. Manche verglei­chen die Situa­ti­on mit den Flücht­lings­jah­ren 2015 und 2016. Die Zahlen sind ähnlich hoch. Und doch ist wegen des Ukrai­ne-Kriegs auch vieles anders.

Wo die geflüch­te­ten Menschen herkommen

Denn der aller­größ­te Teil der dieses Jahr nach Deutsch­land geflüch­te­ten Menschen kommt aus der Ukrai­ne. Nach offizi­el­len Angaben wurden im sogenann­ten Auslän­der­zen­tral­re­gis­ter bis zum 8. Oktober genau 1.002.668 Perso­nen erfasst, die im Zusam­men­hang mit dem russi­schen Angriff vom 24. Febru­ar aus der Ukrai­ne nach Deutsch­land einge­reist sind.

Rund ein Drittel davon sind Kinder und Jugend­li­che unter 18 Jahren. Mehr als 70 Prozent der Erwach­se­nen sind Frauen. Hinzu kamen nach Zahlen des Bundes­amts für Migra­ti­on und Flücht­lin­ge bis Ende Septem­ber 134.908 Menschen, die erstmals einen Asylan­trag in Deutsch­land gestellt haben. Das ist rund ein Drittel mehr als im Vorjahreszeitraum.

In diesem Jahr suchten bisher zusam­men also bereits gut 1,1 Millio­nen Menschen Schutz in Deutsch­land. 2015 wurden hier 441.899 Erstan­trä­ge auf Asyl regis­triert, 2016 waren es 722.370. Die Zahlen sind aber nicht unbedingt gut vergleich­bar und sie sagen nicht alles. So ist unklar ist, wie viele Menschen aus der Ukrai­ne die Bundes­re­pu­blik wieder verlas­sen haben.

Migra­ti­ons­for­scher verwei­sen darauf, dass zeitwei­se mehr Ukrai­ne­rin­nen und Ukrai­ner aus der Europäi­schen Union zurück in ihre Heimat gingen als umgekehrt. Die Beson­der­heit bei den Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne ist zudem: Sie bekamen hier sofort Aufent­halts­recht und Arbeits­er­laub­nis, sie mussten nicht in Sammel­un­ter­künf­te und nicht in Asylverfahren.

Was die Zahlen für Deutsch­land bedeuten

«Klar ist, wir haben es mit einem erheb­li­chen Stress­test für unsere Gesell­schaft zu tun», sagt Flucht­ex­per­te Marcus Engler vom Deutschen Zentrum für Integra­ti­ons- und Migra­ti­ons­for­schung. Und sie könnten aus seiner Sicht im Winter noch steigen, wenn der Krieg in der Ukrai­ne eskaliert oder dort noch mehr Wohnun­gen zerstört werden.

Die Folge: Die Unter­brin­gung wird zum humani­tä­ren Kraft­akt, wie Innen­mi­nis­te­rin Faeser es ausdrückt. Nach Angaben der Berli­ner Integra­ti­ons­se­na­to­rin Katja Kipping (Linke) sind zum Beispiel aktuell in der Haupt­stadt nur 200 Aufnah­me­plät­ze frei. Dabei seien in den vergan­ge­nen Monaten rund 6000 neue Plätze geschaf­fen worden, die Gesamt­zahl sei mit 27.700 so hoch wie nie. «Die Situa­ti­on ist enorm schwie­rig», sagt Kipping. Das ist nun in vielen Kommu­nen so, auch im Westen.

Man stelle sich der humani­tä­ren Heraus­for­de­rung, betont Städte­tags­vi­ze Jung in einer Erklä­rung, die dem Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land und der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. «Mit großer Sorge blicken wir aller­dings auf den Winter.» Jung ist zugleich Oberbür­ger­meis­ter von Leipzig. Demnächst sollen dort zwei Zeltstäd­te für knapp 440 Menschen entste­hen. «Aber Weihnach­ten ist Schluss», sagt Stadt­spre­cher Matthi­as Hasberg. «Dann reden wir nicht mehr über Zelte, sondern über Turn- und Messehallen.»

Es kommen mehr Menschen über die Balkanroute

Kopfzer­bre­chen macht den Behör­den seit einigen Wochen, dass zusätz­lich zu den Ukrai­ne-Flücht­lin­gen mehr Menschen aus anderen Krisen­re­gio­nen über die sogenann­te Balkan­rou­te kommen. Sachsen gilt als ein Hotspot. Hier kommen Menschen über die Grenzen zu Tsche­chi­en und Polen an.

Die Zahl der in der Dresd­ner Bundes­po­li­zei-Inspek­ti­on regis­trier­ten ankom­men­den Migran­ten stieg von gut 500 im Juli über 1200 im August auf etwa 2400 im Septem­ber. Bei unerlaub­ten Einrei­sen werden vor allem Menschen aus Syrien, aber auch Iraker und Afgha­nen aufge­grif­fen, darun­ter viele junge Männer im Alter von 15 bis 25 Jahren. Branden­burg meldet einen starken Anstieg illega­ler Schleusungen.

Bayern stell­te von Anfang Januar bis Ende August 2022 im 30-Kilome­ter-Bereich an den Grenzen zu Tsche­chi­en und Öster­reich 1650 Fälle unerlaub­te Einrei­sen fest und kündig­te verstärk­te Kontrol­len in der Grenz­re­gi­on an. Öster­reich hat nach Behör­den­an­ga­ben seit Mai rund 68.000 irregu­lär einge­reis­te Migran­ten aufge­grif­fen, vor allem aus Afgha­ni­stan, Indien, Syrien, Tunesi­en und Pakistan — Tendenz steigend. Auch Indika­to­ren in Serbi­en und Ungarn deuten darauf hin: Die Balkan­rou­te wird derzeit inten­si­ver genutzt als noch vor einem Jahr.

In der Pande­mie saßen viele fest

Migra­ti­ons­for­scher setzen die steigen­den Zahlen aber ins Verhält­nis. Über die Balkan­rou­te kämen viel weniger Menschen als 2015 oder 2016 — nur etwa 10 bis 15 Prozent der damali­gen Zahlen, sagt Franck Düvell von der Univer­si­tät Osnabrück. Dahin­ter stecke auch ein «nachho­len­der Effekt». Es kämen viele Menschen, die wegen der Corona-Pande­mie in Ankunfts­län­dern wie Griechen­land festge­ses­sen hätten und sich nun besse­re Bedin­gun­gen in nördli­chen EU-Ländern erhofften.

Die Zahl der entdeck­ten irregu­lä­ren Ankünf­te in der EU sei hinge­gen nicht beson­ders hoch. «Da ist keine Welle im Entste­hen», sagt Düvell. «Dass jetzt wieder das Schreck­ge­spenst Balkan­rou­te 2015 bemüht wird – ich finde das eigent­lich unver­ant­wort­lich.» Sein Berli­ner Kolle­ge Engler sieht das ähnlich: «Ich sehe da bisher keine ganz große neue Migra­ti­ons­be­we­gung von außen in die Europäi­sche Union.»

Bund soll mehr helfen

Gleich­wohl sind sich beide Forscher einig, dass die Gesamt­zahl der in Deutsch­land unter­zu­brin­gen­den und zu versor­gen­den Menschen außer­ge­wöhn­lich hoch ist. «Ich verste­he, dass das eine Riesen­her­aus­for­de­rung ist», sagt Düvell. Die Kommu­nen fordern dafür Hilfe. «Der Bund wird nicht umhin­kom­men, seine Mittel bei der Finan­zie­rung der Unter­brin­gung von Geflüch­te­ten aus der Ukrai­ne zu erhöhen», sagt Städte­tags­vi­ze Jung.

Um die Finan­zen dürfte noch gefeilscht werden. Eine Zusage hat Innen­mi­nis­te­rin Faeser aber schon gemacht: Die SPD-Politi­ke­rin will unter anderem weite­re Bundes­im­mo­bi­li­en als Unter­künf­te zur Verfü­gung stellen.

Von Jörg Schurig, Marti­na Herzog und Verena Schmitt-Rosch­mann, dpa