KABUL/FRANKFURT (dpa) — Hunder­te weite­re Menschen, die in Afgha­ni­stan festsa­ßen, sind über Tasch­kent nach Deutsch­land geflo­gen worden. Am Hindu­kusch könnten sich noch viel mehr Deutsche aufhal­ten als gedacht.

Die Bundes­wehr hat seit Montag mehr als 1640 Menschen aus Afgha­ni­stan in Sicher­heit gebracht.

Im usbeki­schen Tasch­kent lande­te am Freitag­mor­gen eine weite­re Trans­port­ma­schi­ne mit 181 in Kabul aufge­nom­me­nen Menschen an Bord, wie die Bundes­wehr auf Twitter mitteil­te. Von der usbeki­schen Haupt­stadt geht es mit zivilen Flugzeu­gen weiter nach Deutschland.

Am Morgen flog die Bundes­wehr auch erstmals selbst «Schutz­per­so­nen» aus Afgha­ni­stan nach Deutsch­land aus. An Bord eines Airbus A310-MRTT sind nach Infor­ma­tio­nen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) 185 Passa­gie­re. Das in der usbeki­schen Haupt­stadt Tasch­kent gestar­te­te Flugzeug soll am Freitag­mit­tag in Hanno­ver landen. Bislang gab es nur Pendel­flü­ge der Bundes­wehr zwischen der afgha­ni­schen Haupt­stadt Kabul und Tasch­kent. Von dort ging es dann mit Passa­gier­ma­schi­nen weiter nach Deutschland.

Unter den Geret­te­ten waren bis zum frühen Donners­tag­abend neben afgha­ni­schen Ortskräf­ten und anderen Hilfs­be­dürf­ti­gen mindes­tens 244 deutsche Staats­bür­ger — weit mehr als ursprüng­lich erwar­tet. Und immer noch könnten sich mehre­re hundert im Land aufhal­ten. Auf der Krisen­lis­te des Auswär­ti­gen Amts hat sich inzwi­schen «eine mittle­re dreistel­li­ge Zahl» Deutscher regis­triert, wie die Deutsche Presse-Agentur aus dem Minis­te­ri­um erfuhr.

Ursprüng­lich waren es knapp 100 gewesen. Viele haben sich aber wegen der drama­ti­schen Lage in Afgha­ni­stan nach der Macht­über­nah­me der Taliban nachge­mel­det. Die Zahlen ändern sich ständig. Nicht berück­sich­tigt sind die 40 Botschafts­mit­ar­bei­ter, die mit einer US-Maschi­ne bereits in der Nacht zu Montag nach Katar ausge­flo­gen wurden.

Laut einem «Spiegel»-Bericht will die Bundes­wehr für die Evaku­ie­rung von Deutschen und Ortskräf­ten zwei Hubschrau­ber nach Kabul verle­gen. Die beiden Heliko­pter des Komman­dos Spezi­al­kräf­te (KSK) sollten zur Rettung von Schutz­su­chen­den aus der Luft einge­setzt werden, schreibt das Magazin. Die Hubschrau­ber seien eigent­lich auf die Befrei­ung von Geiseln ausge­rich­tet, sehr beweg­lich und könnten selbst in eng bebau­ten Städten landen.

Mit den Heliko­ptern könnten KSK-Solda­ten in den nächs­ten Tagen kleine Gruppen aus Kabul oder anderen von den Taliban kontrol­lier­ten Zonen an den schwer zugäng­li­chen Flugha­fen bringen, berich­tet der «Spiegel» unter Berufung auf Bundes­wehr­krei­se. Bisher ist die Bundes­wehr nur inner­halb des Flugha­fens Kabul im Einsatz, der von US-Truppen abgesi­chert wird.

Afgha­ni­sche Ortskräf­te in Branden­burg angekommen

Rund 60 afgha­ni­sche Ortskräf­te und ihre Angehö­ri­gen sind mittler­wei­le in Branden­burg angekom­men. Zwei Busse aus Frankfurt/Main trafen am Freitag­mor­gen in der Erstauf­nah­me in Dober­lug-Kirch­hain (Elbe-Elster) ein. Es hande­le sich um Ortskräf­te aus Afgha­ni­stan mit ihren engsten Angehö­ri­gen, sagte der Sprecher des Innen­mi­nis­te­ri­ums, Martin Burmeis­ter. Darun­ter seien 29 Kinder und Jugend­li­che. Die ursprüng­lich für Donners­tag­abend geplan­te Ankunft hatte sich wegen der Regis­trie­rung der Menschen erheb­lich verzögert.

Die Afgha­nen wurden zunächst mit Essen und Trinken sowie medizi­nisch versorgt. Sie müssen drei Tage in Quaran­tä­ne und sollen voraus­sicht­lich bis Diens­tag in Dober­lug-Kirch­hain bleiben. Dann könnten sie auch in andere Bundes­län­der verteilt werden.

Gestern waren bereits weite­re Maschi­nen mit Hunder­ten Geret­te­ten in Frank­furt gelan­det. Morgens befan­den sich insge­samt rund 500 Menschen an Bord zweier gechar­ter­ter Flieger von Lufthan­sa und Uzbeki­stan Airways aus Tasch­kent. Am Nachmit­tag lande­te einem Lufthan­sa-Sprecher zufol­ge eine weite­re Maschi­ne. In dem Airbus A340 befan­den sich demnach etwa 150 Menschen.

Augen­zeu­gen berich­ten von Chaos

Nach ihrer Landung in Deutsch­land berich­te­ten Passa­gie­re von schlim­men Erleb­nis­sen und chaoti­schen Verhält­nis­sen am Flugha­fen in Kabul. «Es ist schreck­lich», sagte Mahmud Sadja­di, ein Deutscher mit afgha­ni­schen Wurzeln. Er habe Tote gesehen und Schüs­se gehört. «Hilflo­sig­keit, Hoffnungs­lo­sig­keit. Nur Chaos», so beschrieb er die Zustän­de in Kabul.

Der Mann aus dem Wester­wald war zuvor mit dem Evaku­ie­rungs­flug der Lufthan­sa nach Frank­furt gekom­men. Insbe­son­de­re am Flugha­fen der afgha­ni­schen Haupt­stadt sei es gefähr­lich, sagte Sadja­di, der sich drei Wochen in Kabul aufge­hal­ten hatte. «Man muss beispiels­wei­se auch durch eine Barrie­re der Taliban durch­ge­hen.» Afgha­ni­sche Sicher­heits­kräf­te hätten geschos­sen. Er habe mitbe­kom­men, wie Menschen gestor­ben seien. Ohne Pass sei kein Durch­kom­men zum Flugha­fen möglich gewesen.

Ein anderer Passa­gier, der seinen Namen nicht nennen wollte, berich­te­te von organi­sa­to­ri­schen Schwie­rig­kei­ten bei der Rückkehr­ak­ti­on. «Die Situa­ti­on ist schwer und nicht leicht unter Kontrol­le zu bringen», sagte er. Die Menschen in Afgha­ni­stan bräuch­ten aber Hilfe. «Die Welt muss den afgha­ni­schen Leuten helfen.»

Der Passa­gier Sadja­di dankte der Bundes­re­gie­rung für die Rettung, beklag­te aber auch fehlen­de Infor­ma­tio­nen. «Es gab keine Infor­ma­tio­nen, wo wir uns sammeln müssen, wann wir uns sammeln müssen.» Man sei allein gelas­sen worden, auf seine Mails habe er keine Antwort bekom­men. Andere Länder hätten ihre Leute mit Bussen einge­sam­melt und zum Flugha­fen gebracht. «Gott sei Dank ist alles gut gegangen.»

Dennoch denke er an die vielen Menschen, die noch in Afgha­ni­stan seien. Er selbst habe noch Familie in Afgha­ni­stan, seine Geschwis­ter lebten dort, sagte Sadja­di, der in Frank­furt von seinen Kindern empfan­gen wurde. Mit dem Land werde ein schreck­li­ches Spiel gespielt, meint er. «Das Billigs­te, was es gibt, ist das Leben eines Afghanen.»

Reaktio­nen von Politikern

Der frühe­re Bundes­au­ßen­mi­nis­ter Sigmar Gabri­el (SPD) sprach sich für eine inter­na­tio­na­le Afgha­ni­stan-Konfe­renz aus. «Je eher sie statt­fin­det, umso besser», sagte er dem Redak­ti­ons­netz­werk Deutsch­land (RND/Freitag). Teilneh­men sollten auch Russland und China — auch wenn in beiden Ländern derzeit noch Spott und Häme wegen der Blama­ge des Westens dominier­ten. «Das Triumph­ge­heul dieser Tage in Moskau und Peking wird bald verklin­gen», meint Gabri­el. Außer­dem gehör­ten neben der EU und den Weltmäch­ten USA, China und Russland auch Pakistan und der Iran an den Konfe­renz­tisch, beton­te er.

Die Bundes­re­gie­rung stellt 100 Millio­nen Euro Sofort­hil­fe für Flücht­lin­ge aus Afgha­ni­stan zur Verfü­gung. Dies teilte das Auswär­ti­ge Amt mit. Mit dem Geld sollen inter­na­tio­na­le Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen unter­stützt werden, die sich in den Nachbar­län­dern um geflüch­te­te Afgha­nen kümmern. Weite­re Hilfen sollen folgen.

Unions-Kanzler­kan­di­dat Armin Laschet sprach sich für Gesprä­che mit den Taliban aus, um gefähr­de­ten Menschen in Afgha­ni­stan zu helfen. «Die Kunst guter Außen­po­li­tik besteht gerade darin, mit solchen Staaten zu Lösun­gen zu kommen, deren Ziele und Menschen­bild unsere Gesell­schaft zu Recht ablehnt», sagte der CDU-Chef der «Neuen Osnabrü­cker Zeitung». «Den Dialog mit den Taliban zu verwei­gern, würde den Menschen nicht helfen, die aus Afgha­ni­stan herauswollen.»