BERLIN (dpa) — Vor 50 Jahren feier­te der Film «Nicht der Homose­xu­el­le ist pervers, sondern die Situa­ti­on, in der er lebt» seine Urauf­füh­rung. Seitdem ist viel passiert. Hat sich die Schwu­len­be­we­gung totgesiegt?

Zwei Jahre nach queeren Aufstän­den in der New Yorker Chris­to­pher Street erwach­te Deutsch­lands Schwu­len­be­we­gung wieder: Rosa von Praun­heims Film «Nicht der Homose­xu­el­le ist pervers, sondern die Situa­ti­on, in der er lebt» feier­te vor gut 50 Jahren bei der Berli­na­le seine Uraufführung.

Danach gründe­ten sich viele Homose­xu­el­len­in­itia­ti­ven in der Bundes­re­pu­blik. Seitdem hat sich viel getan. Eine Frage zum Inter­na­tio­na­len Tag gegen Homopho­bie an diesem Montag (17.5.) könnte also lauten: Hat sich die Homobe­we­gung zum Beispiel mit der «Ehe für alle» totgesiegt?

In Praun­heims Stumm­film mit Off-Stimme im Stil der Sozial­kri­tik wurde vor 50 Jahren provo­kant formu­liert, Schwu­le seien oft «politisch passiv» — «als Dank dafür, dass sie nicht totge­schla­gen werden». Es war nur ein Viertel­jahr­hun­dert nach den Verfol­gungs­exzes­sen der Nazis und keine zwei Jahre, nachdem prakti­zier­te männli­che Homose­xua­li­tät unter Erwach­se­nen in der Bundes­re­pu­blik überhaupt legal gewor­den war. Autoren des Dokudra­mas waren neben Praun­heim der Sexual­wis­sen­schaft­ler Martin Danne­cker und Sigurd Wurl.

«Da die Schwu­len vom Spießer als krank und minder­wer­tig verach­tet werden, versu­chen sie noch spießi­ger zu werden, um ihr Schuld­ge­fühl abzutra­gen mit einem Übermaß an bürger­li­chen Tugen­den», hieß es. Viele Schwu­le schäm­ten sich ihrer Veran­la­gung, jahrhun­der­te­lan­ge christ­li­che Erzie­hung habe ihnen einge­prägt, sie seien «Säue». Deshalb flüch­te­ten viele «in die roman­ti­sche Welt des Kitsches».

Am Arbeits­platz sei es für Schwu­le beson­ders schwer, denn zur «beschis­se­nen Arbeit» komme noch die «nerven­zer­rei­ben­de Selbst­ver­leug­nung». «Sie werden Freizeit-Schwu­le, die aus der verlo­ge­nen Situa­ti­on am Arbeits­platz nur allzu gerne in die Welt der Schwu­len flüch­ten, wo sie zwar nicht als Menschen, aber als Schwu­le anerkannt werden.» Fazit: «Nicht die Homose­xu­el­len sind pervers, sondern die Situa­ti­on, in der sie zu leben haben.»

Als Geburts­stun­de der ersten Homose­xu­el­len­be­we­gung gilt landläu­fig die Gründung des «Wissen­schaft­lich-Humani­tä­ren Komitees» 1897 in Berlin. Ihr Pionier, der Arzt und Sexual­wis­sen­schaft­ler Magnus Hirsch­feld, starb 1935 in Nizza. Die Nazis hatten ihn aus Deutsch­land vertrie­ben. Es dauer­te also fast vier Jahrzehn­te, bis im Vorrei­ter­land Deutsch­land wieder Anschluss an diese Entwick­lung gefun­den wurde. Das passier­te nicht zufäl­lig paral­lel zur Frauen­rechts­be­we­gung der 70er. Der Kampf um Anerken­nung war in.

Vor Hirsch­feld und Co. war man bei Lesben und Schwu­len kaum von Menschen mit fester Identi­tät ausge­gan­gen, die nun mal so begeh­ren, wie sie es tun. Vielmehr existier­te die Vorstel­lung, jeder könne wegen morali­scher Schwä­che zur sogenann­ten Sodomie verführt werden.

Selbst der Begriff «homose­xu­ell» musste erst einmal erfun­den werden. Der öster­rei­chisch-ungari­sche Autor Karl Maria Kertbe­ny prägte das Wort 1868 — aus dem griechi­schen «homos» (gleich) und dem latei­ni­schen «sexus» (Geschlecht). Mit der «Homose­xua­li­tät» wurde auch erst die «Hetero­se­xua­li­tät» benannt. Sie war zuvor kaum erklärungsbedürftig.

So ähnlich entstand in jünge­rer Zeit der Begriff «cis» — als Gegen­teil von «trans». Er wird derzeit erst geläu­fi­ger. «Trans­gen­der» ist die Bezeich­nung für Perso­nen, deren Geschlechts­iden­ti­tät nicht mit dem Geschlecht überein­stimmt, das nach der Geburt anhand äußerer Merkma­le festge­legt wurde. Es gibt zudem auch Menschen, die die Zuord­nung Mann oder Frau ableh­nen und sich als non-binär bezeichnen.

Das alles ist einigen viel zu kompli­ziert. Im Inter­net ist es ein Lieblings­hass­the­ma. Alles Nicht-Hetero­se­xu­el­le taugt noch immer für Kontro­ver­sen — zu besich­ti­gen war das auch kürzlich, als Kriti­ker der Aktion #actout, bei der sich Anfang Febru­ar 185 Schau­spie­le­rin­nen und Schau­spie­ler als queer outeten, «Kalkül» vorwar­fen. Die Gesell­schaft sei doch fortschritt­lich genug, ein Gruppen-Coming-out kaum notwen­dig, die Unsicht­bar­keit von Queers längst überwunden.

Die Haltung, mit der allen, die vom angeb­lich norma­len Geschlechts­le­ben abwei­chen, begeg­net wird, lautet nach wie vor oft: Seid wenigs­tens diskret. Reibt uns das nicht so unter die Nase. Gute Homos oder gute Trans­per­so­nen (manch­mal auch trans Perso­nen geschrie­ben) sind dann die, die nicht als solche erkenn­bar sind. Studi­en belegen, dass auch heute viele Lesben und Schwu­le am Arbeits­platz lieber ungeoutet bleiben.

Wo also steht die Schwu­len­be­we­gung 50 Jahre nach «Nicht der Homose­xu­el­le ist pervers»? Der Aktivist Dirk Ludigs beobach­tet die Szene seit Jahrzehn­ten. Der Autor («Bezie­hungs­wei­se Sex: Tipps für Paare») und Fernseh­jour­na­list («Liebe Sünde») hat lange in den USA gelebt und einen in Kalifor­ni­en geschul­ten Blick auf Diskurse.

Er meint: «Schwu­le Männer waren natür­lich schon immer sehr unter­schied­lich. Aller­dings ist in politi­schen Fragen seit der “Ehe für alle” 2017 ein Bruch nicht mehr zu überse­hen. Viele bürger­li­che Schwu­le ziehen sich ins Priva­te einer gefühl­ten Norma­li­tät zurück. Einige driften nach rechts, geben einsei­tig Menschen mit Migra­ti­ons­ge­schich­te die Schuld an bestehen­der Schwu­len­feind­lich­keit. Und dann gibt es viele, vor allem jünge­re, die sich als Teil einer neuen, linken und queeren Bewegung begrei­fen, feminis­tisch, antiras­sis­tisch und ökolo­gisch, die Bündnis­se mit anderen sozia­len Bewegun­gen wie Fridays for Future oder Black Lives Matter suchen.»

Von Gregor Tholl, dpa