Der harte Lockdown zeigt Wirkung: Inner­halb eines Monats haben sich die deutschen Infek­ti­ons­zah­len in der Pande­mie halbiert. Schnel­le Locke­run­gen der Maßnah­men halten einige Wissen­schaft­ler aber für fatal. Der Weg zu mehr Freihei­ten für alle führe woanders lang.

Deutsch­land hat eine wichti­ge Hürde im Pande­mie-Winter genom­men: Dank des stren­gen Lockdowns haben sich die Infek­ti­ons­zah­len seit Weihnach­ten halbiert.

So gab das Robert Koch-Insti­tut die 7‑Tage-Inzidenz — also die Zahl der Neuin­fek­tio­nen pro 100 000 Einwoh­ner und Woche — am Donners­tag­mor­gen mit 98 an. Der bishe­ri­ge Höchst­wert wurde am 22. Dezem­ber mit 198 erreicht.

Erklär­tes Ziel von Bund und Ländern ist bisher, die 7‑Tage-Inzidenz auf unter 50 zu drücken. Hält die positi­ve Entwick­lung an, könnte das rein rechne­risch so bis Mitte bis Ende Febru­ar erreich­bar sein. Doch Wissen­schaft­ler halten ein Hoffnung­ma­chen auf schnel­le Locke­run­gen für das falsche Signal. Deutsch­land solle den Erfolg nicht verspie­len, rät Physi­ke­rin Viola Priese­mann vom Max-Planck-Insti­tut für Dynamik und Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on. Mehr Freihei­ten für alle winken aus ihrer Sicht erst, wenn die Inzidenz auf oder unter 10 gedrückt werde — so wie im vergan­ge­nen Sommer.

Im vergan­ge­nen Jahr wurde eine Inzidenz von 50 als Schwel­le dafür definiert, bis zu der die knapp 400 deutschen Gesund­heits­äm­ter die Lage unter Kontrol­le halten können: also alle Kontakt­per­so­nen von Infizier­ten ausfin­dig machen und in Quaran­tä­ne schicken. Wichtig sei, schnell auf den 50er-Wert zu kommen, «damit wir dann über Öffnun­gen reden können», argumen­tiert Kanzle­rin Angela Merkel (CDU).

Dabei gibt es keine Automa­tis­men: Bei welchen Schwel­len welche Corona-Maßnah­men zu lockern sind, ist eine politisch zu klären­de Frage. SPD-Gesund­heits­exper­te Karl Lauter­bach twitter­te bereits am Mittwoch­abend: «Ich werde für Fortset­zung des Lockdowns argumen­tie­ren» — bis eine Inzidenz von 25 erreicht sei.

Für Forsche­rin­nen wie Viola Priese­mann ist die Inzidenz um 100 erst ein kleines Zwischen­ziel. Sie hält drei weite­re Halbie­run­gen der Anste­ckungs­ra­ten für nötig: auf 50, 25 und schließ­lich 12,5. Ab dem bishe­ri­gen Ziel 50 würden dann ihrer Rechnung nach zwei bis vier weite­re Wochen verge­hen, bis über ein bisschen mehr Norma­li­tät nachge­dacht werden könne.

Es sei ein Weg, der sich für alle lohne, wirbt die Forsche­rin für ihre Theorie. Das sei wie bei einem Feuer. Entwe­der sei es unter Kontrol­le — oder eben nicht. «Eine halbe Kontrol­le gibt es bei Feuer nicht.»

Mit ihrer Meinung steht sie nicht allein. Chari­té-Virolo­ge Chris­ti­an Drosten hat trotz fortschrei­ten­der Impfun­gen bei Risiko­grup­pen bereits vor zu schnel­len Locke­run­gen gewarnt. Auch andere Virolo­gen wünschen sich Puffer jenseits der Zielmar­ke 50. Das liegt auch an Varian­ten des Virus, die anste­cken­der sind.

«Wir sehen in Deutsch­land eine wöchent­li­che Abnah­me der Neuin­fek­tio­nen von rund 20 Prozent», rechnet Sebas­ti­an Binder vor, System­im­mu­no­lo­ge am Helmholtz-Zentrum für Infek­ti­ons­for­schung. «Damit wäre ungefähr Mitte Febru­ar die Marke von 50 Neuin­fek­tio­nen pro 100 000 Einwoh­ner und Woche erreicht.» Das Insti­tut arbei­te an Simula­tio­nen, wie schnell sich die Mutatio­nen durch­set­zen und wie sich das auf das Infek­ti­ons­ge­sche­hen auswir­ken könne.

Quanti­ta­tiv gebe es zwar noch keine Ergeb­nis­se. «Es ist aber ziemlich klar, dass die briti­sche Varian­te — wenn sie sich durch­setzt — deutlich schär­fe­re Maßnah­men erfor­dert, um eine Stabi­li­sie­rung oder Sinken der Fallzah­len zu errei­chen», sagt Binder. Aktuell sei es daher sehr wichtig, eine Verbrei­tung dieser Varian­te so weit wie möglich zu stoppen.

«Allge­mein sind die Erfah­run­gen aus Großbri­tan­ni­en besorg­nis­er­re­gend», ergänzt der Wissen­schaft­ler. «Ich halte bei der aktuel­len Reduk­ti­on Locke­run­gen Mitte Febru­ar für riskant, wenn man die Fallzah­len gering halten möchte.» Er befürch­te sonst einen erneu­ten Lockdown in der Folge. «Das gilt übrigens sogar mit dem bekann­ten Virus­typ, umso mehr aber mit der Gefahr einer Verbrei­tung der neuen Variante.»

Auch Binder sieht aber gute Chancen, die Kontrol­le über die Pande­mie wieder­zu­ge­win­nen — auf einem Infek­ti­ons­ni­veau wie im vergan­ge­nen Sommer und ohne harte allge­mei­ne Einschrän­kun­gen. «In einem solchen Szena­rio kann lokal angepasst reagiert werden, wenn es zu Ausbrü­chen kommt», sagt er. Alle anderen Regio­nen könnten mit Abstand­hal­ten, Masken­tra­gen, Hygie­ne sowie wenigen sonsti­gen Einschrän­kun­gen auskom­men. «Bei der aktuel­len Rate dauert es selbst ohne Locke­run­gen aber bis Mitte April, bis wir unter 10 Fällen pro Woche und 100 000 Einwoh­ner sind», sagt auch Binder. Dann ist nach Ostern.

«Das Problem sind die Menschen, die gar nicht wissen, dass sie Träger des Virus sind — und es aus Verse­hen in Schulen oder Alten­hei­me tragen, zu Freun­den und Bekann­ten», sagt Forsche­rin Priese­mann. «Das passiert bei hohen Fallzah­len. Und das passiert trotz der Schutzmaßnahmen.»

Das Manage­ment der Pande­mie dürfe sich deshalb nicht allein an Klinik-Kapazi­tä­ten orien­tie­ren. Test- und Impfka­pa­zi­tä­ten seien beschränkt. Auf die Frage, wie lange Immuni­tät anhal­te, gebe es noch keine Antwort. Je höher die Fallzah­len, desto eher aber könnten neue Virus-Varian­ten das Immun­sys­tem und Impfun­gen umgehen. «Und dann ist man wieder fast bei Punkt Null.»