WANGEN — Bei einer Recher­che in den 400 Jahre alten „Säckel­meis­ter­bü­chern“ stieß Stadt­ar­chi­var Dr. Rainer Jensch auf bisher völlig unbekann­te Belege. Unter der Rubrik „Zehrung und Schenk­wein“ fand er die Ausga­ben für die beiden Schul­meis­ter und deren Frauen, sowie für die Schüler der latei­ni­schen und deutschen Schule, die im Anschluss an das „Ruten­ge­hen“ für die dazuge­hö­ren­den Festlich­kei­ten aufge­wen­det wurden. Das heißt: Das Wange­ner Kinder- und Heimat­fest hat wesent­lich ältere Wurzeln als bisher bekannt ist.

Was er gefun­den hat, berich­tet Jensch: „In den Säckel­meis­ter­bü­chern findet sich der Eintrag: ‚Auf Diens­tag den 17. Juli 1612 sind beide Herren Schul­meis­ter mit den Kindern in die Ruten gezogen, hernach bei mir im Rat auf die Kinder an Wein…, um Brot auf die Kinder…, um Krieß­beer [Kirschen], meine Herren mit den Herrn Schul­meis­ter verzehrt…, jeden Schul­meis­ters Frau ein Quart Wein…‘. 

Erstmals sind diese Einträ­ge ‚so über die Knaben und Mädle gangen, so sie in die Ruten gangen‘ für das Jahr 1604 nachzu­wei­sen. Als die Herren Schul­meis­ter im Jahr 1623 mit den Kindern ‚in Rueten gewesen‘, ließ sich die Stadt den Wein, das Brot und die Kirschen eine namhaf­te Summe von über 18 Gulden kosten. Doch mit dem reichs­städ­ti­schen Glanz, wie er auf der weitbe­kann­ten Stadt­ta­fel von Johann Andre­as Rauch noch bis zum heuti­gen Tag aufscheint, sollte es schon bald vorbei sein. Zu dieser Zeit warf die Furie des 30-jähri­gen Krieges bereits ihre dunklen Schat­ten über die Allgäustadt. 

Für den Brauch des ‚Ruten­ge­hens‘ gibt es unter­schied­li­che Erklä­rungs­ver­su­che. Sehr wahrschein­lich zogen die Lehrer mit ihren Schülern vor die Tore der Stadt, um von den Feldsträu­chern jene Weiden- oder Hasel­nuss­ru­ten abzuschnei­den, die den Lehrern im kommen­den Schul­jahr zur Züchti­gung der Schüler dienen sollten. Der Gebrauch von Ruten zur Erzie­hung der Schüler gehör­te noch bis ins letzte Jahrhun­dert zum Schul­all­tag. So ist die Rute in den Bildern des Mittel­al­ters meist als ‚Amtszei­chen‘ der Lehrer zu sehen. 

Dass mit dem Ritual des festli­chen Ruten­ein­ho­lens zugleich die Zäsur zwischen zwei Schul­jah­ren gefei­ert wurde, belegen die Ausga­ben für den Schenk­wein. Dieser wurde nicht nur den Lehrern und der Obrig­keit verab­reicht, sondern diente auch den Schülern zum Genuss. Bei dem Ausga­be­pos­ten ‚Brot‘ dürfte es sich um beson­de­re Gebäcke gehan­delt haben. Beispiels­wei­se wurden bei einer Nieder­wan­ge­ner ‚Schul­schan­kung‘ im 19. Jahrhun­dert die sogenann­ten ‚Schul­bretz­gen‘ verteilt. Bemer­kens­wert ist, dass die Wange­ner Schüler mit ‚Kriesen‘ bedacht wurden. Diese Kirschen dürften ihnen den bitte­ren Geschmack bezüg­lich der Ruten etwas versüßt haben. Im beleg­ba­ren Zeitraum von 1604 bis 1623 fanden die Festlich­kei­ten während der Sommer­mo­na­te Juli und August statt. 

Auf das Ruten­ein­ho­len gehen bis heute noch einige bekann­te Schüler­fes­te im süddeut­schen Raum zurück. Für das tradi­ti­ons­rei­che Ravens­bur­ger Ruten­fest stammt der erste urkund­li­che Beleg aus dem Jahr 1645. Auch in Wangen wird das alte Brauch­tum seine Fortset­zung gefun­den haben. Der für das Jahr 1798 beleg­ba­re sogenann­te ‚Schul­her­ren­tag‘ war sicher eine Feier in dieser Tradi­ti­on. Nachdem Wangen seine Souve­rä­ni­tät als Reichs­stadt verlo­ren hatte, ist für die bayri­sche Ära der Stadt­ge­schich­te für das Jahr 1808 eine ‚Schul­prei­sungs­fei­er­lich­keit‘ belegt. Unter könig­lich-württem­ber­gi­scher Landes­ho­heit ergeht schließ­lich im Jahr 1832 im Wange­ner Oberamts­blatt ein ‚Aufruf an Kinder­freun­de‘ mit ihren Spenden ein ‚kleines Kinder­fest‘ zu ermög­li­chen. Mit dessen großem Erfolg war nun der Name für das bis heute gefei­er­te Stadt­fest gefun­den. Die Wurzeln des Wange­ner Kinder­fes­tes reichen jedoch erheb­lich weiter in die Vergan­gen­heit zurück als sein Name.“