Ja, es gibt auch noch andere Krank­heits­er­re­ger als das Corona­vi­rus: Viele davon wurden im vergan­ge­nen Jahr in Deutsch­land aber deutlich selte­ner regis­triert. Woran liegt es?

Die letzte Erkäl­tung? Eher eine dunkle Erinne­rung. Und selbst das Kind, das ständig kränkel­te, ist auffäl­lig lange am Stück gesund. Solche Beobach­tun­gen machten einige Menschen während und nach dem Lockdown im vergan­ge­nen Frühjahr.

Damals konnte man sich noch fragen: Ist das nur Einbil­dung? Hört man vielleicht aus Sorge vor Corona mehr in sich hinein oder weiß Symptom­frei­heit erst jetzt richtig zu schätzen?

Mittler­wei­le ist 2020 vorbei und Wissen­schaft­ler haben erste Bilan­zen gezogen. Sie schei­nen die Beobach­tun­gen des Frühjahrs zu bestä­ti­gen: «Die Fallzah­len von vielen anderen Infek­ti­ons­krank­hei­ten sind während der Covid-19-Pande­mie im Vergleich zu den Vorjah­ren zurück­ge­gan­gen», teilt Sonia Boender vom Fachge­biet Surveil­lan­ce am Robert Koch-Insti­tut (RKI) auf Anfra­ge mit. Nicht nur zu Covid-19, auch zu vielen anderen Leiden laufen dort die Daten zusammen.

Um mögli­che Pande­mie­ef­fek­te zu unter­su­chen, stell­ten die RKI-Exper­ten eine Analy­se zu relevan­ten melde­pflich­ti­gen Krank­hei­ten an, von Tuber­ku­lo­se über Salmo­nel­lo­se bis zu Hepati­tis E. Zwischen März und Anfang August 2020 wurden demnach knapp 140.000 solcher Nicht-Covid-19-Fälle gemel­det. Das entspre­che einem Rückgang um 35 Prozent vergli­chen mit dem Wert, der anhand der Vorjah­re (Januar 2016 bis Febru­ar 2020) zu erwar­ten gewesen wäre. Mögli­che jährli­che Schwan­kun­gen und Trends seien berück­sich­tigt worden.

Weniger Magen- und Darmerkrankungen

Beson­ders stark rückläu­fig waren der Analy­se zufol­ge Atemwegs- und Magen-Darm-Erkran­kun­gen. Sexuell übertrag­ba­re Infek­tio­nen gingen weniger stark zurück. Aus Exper­ten­sicht gibt es nicht den einen Grund für das Sinken der Zahlen. Dies sei von mehre­ren Fakto­ren abhän­gig, erreger­spe­zi­fisch und nicht allein mit Daten­ana­ly­se zu erklä­ren, erläu­ter­te Boender. Aber: Sicher­lich hätten auch die Maßnah­men zur Eindäm­mung der Pande­mie einen Einfluss gehabt. Schul- und Kitaschlie­ßun­gen, Homeof­fice, Abstands­re­geln, Kontakt­be­schrän­kun­gen und Handhy­gie­ne hätten insbe­son­de­re die Mensch-zu-Mensch-Übertra­gung von Erregern von Atemwegs- und Magen-Darm-Krank­hei­ten verhindert.

Der Gesamt­rück­gang betraf laut RKI alle Alters­grup­pen und war bei Kindern bis 14 Jahre und Senio­ren über 80 am stärks­ten. Krank­hei­ten wie Windpo­cken und Keuch­hus­ten traten laut der Auswer­tung im Unter­su­chungs­zeit­raum weniger als halb so oft auf wie erwar­tet. Bei Masern fällt das Minus mit 85 Prozent beson­ders dick aus. Der Epide­mio­lo­ge Rafael Mikola­jc­zyk von der Martin-Luther-Univer­si­tät Halle-Witten­berg erklärt, dass er bei Masern aber weniger den Effekt in den Corona-Einschrän­kun­gen suchen würde. Starke Schwan­kun­gen von Jahr zu Jahr sind bei Masern üblich. Auch schon Anfang 2020 seien die Zahlen niedrig gewesen.

Dass die reise­freu­di­gen Deutschen wegen der Pande­mie weniger in die Ferne schwei­fen konnten, macht sich laut Exper­tin Boender ebenfalls bemerk­bar: Dadurch seien weniger Krank­hei­ten wie Dengue­fie­ber und Malaria beobach­tet worden, die sonst bei Reise­rück­keh­rern diagnos­ti­ziert werden, erklär­te sie.

Bei Melde­zah­len ist immer zu berück­sich­ti­gen, dass diese nicht nur von den tatsäch­li­chen Erkran­kun­gen abhän­gen, sondern zum Beispiel auch vom Gang zum Arzt und von Tests. Erfass­te Fälle zeigen daher nie ein vollstän­di­ges Bild. Könnte es also sein, dass die niedri­ge­ren Zahlen auch mit der Furcht mancher Menschen vor Corona-Anste­ckun­gen in Warte­zim­mern, dem starken Sars-CoV-2-Fokus im Gesund­heits­sys­tem und der Überlas­tung der Behör­den zusammenhängen?

Erster Lockdown beende­te Grippewelle

Eine Verschlech­te­rung der Erfas­sung durch ander­wei­ti­ge Belas­tun­gen in der Pande­mie sei zwar denkbar, meint Rafael Mikola­jc­zyk. «Dem würde ich aber gerin­ge­re Bedeu­tung zuschrei­ben — und würde schon auch erwar­ten, dass die Kontroll­maß­nah­men Effek­te auf andere Infek­tio­nen gehabt haben.» Er nimmt ebenso wie Fachleu­te vom Landes­amt für Gesund­heit und Sozia­les in Berlin an, dass die Maßnah­men vor allem bei Infek­ti­ons­krank­hei­ten, die gleich oder ähnlich wie Sars-CoV‑2 übertra­gen werden, ein Grund für deren Rückgang sein können.

Schon im Frühjahr 2020 hatte sich gezeigt, dass der erste Lockdown der Grippe­wel­le ein verfrüh­tes Ende berei­te­te. Auch im Herbst und Winter 2020 sind Erkäl­tun­gen und Influ­en­za nach den bislang verfüg­ba­ren Daten selte­ner als in Vorjah­ren. Seit Septem­ber werde ein deutlich niedri­ge­res Niveau bei der Rate der akuten Atemwegs­er­kran­kun­gen verzeich­net als in den Vorsai­sons, schreibt die Arbeits­ge­mein­schaft Influ­en­za am RKI im Wochen­be­richt zum Jahresende.

Nicht einmal 300 im Labor bestä­tig­te Influ­en­za-Fälle sind seit Saison­be­ginn im Herbst bundes­weit gemel­det worden, vor einem Jahr waren es ungefähr zu der Zeit schon mehr als 5000. In der Metro­po­le Berlin sind sogar erst fünf Influ­en­za-Fälle seit Oktober bestä­tigt. «Es wird bisher von einer Zirku­la­ti­on von Influ­en­za­vi­ren auf einem extrem niedri­gen Niveau in der Saison 2020/21 ausge­gan­gen», schrei­ben die RKI-Exper­ten. Das deckt sich mit Beobach­tun­gen im Ausland.

Nicht nur Melde­da­ten, auch die Analy­se von Krank­schrei­bun­gen zeigen Effek­te im Pande­mie­zu­sam­men­hang. Wie die Kranken­kas­se AOK Nordost kürzlich berich­te­te, brems­ten die Schutz­maß­nah­men von Ende Septem­ber bis Mitte Novem­ber 2020 in Berlin, Branden­burg und Mecklen­burg-Vorpom­mern andere Infek­ti­ons­krank­hei­ten stark aus. Krank­schrei­bun­gen seien im Vergleich zu den Vorjah­res­zeit­räu­men zurück­ge­gan­gen, etwa wegen Grippe, Magen-Darm-Infek­ten, Lungen­ent­zün­dun­gen und akuter Bronchitis.

In der RKI-Analy­se zu den Melde­zah­len ab März zeigte sich bei nur einer der betrach­te­ten Krank­hei­ten eine Zunah­me: bei der Hirnent­zün­dung FSME (Frühsom­mer-Menin­go­en­ze­pha­li­tis), die von Zecken übertra­gen wird. Auch das muss wohl nicht allein mit dem Drang vieler Menschen zusam­men­hän­gen, in Lockdown-Zeiten ins Grüne zu gehen. Es gab Warnun­gen, etwa vom Roten Kreuz, dass es wegen des milden Winters mehr Zecken gebe und die Saison bereits im März begon­nen habe.