GÜTERSLOH/MÜNSTER (dpa) — Die katho­li­sche und die evange­li­sche Kirche verlie­ren enorm viele Mitglie­der. Warum? Und schwin­det damit auch der Glaube an Gott? Eine Umfra­ge zur Bedeu­tung und Relevanz der christ­li­chen Kirchen.

Die christ­li­chen Kirchen büßen einer Studie zufol­ge angesichts anhal­tend sinken­der Mitglie­der­zah­len weiter an gesell­schaft­li­cher Bedeu­tung ein. Nach drama­ti­schen Austritts­zah­len für die evange­li­sche und die katho­li­sche Kirche in den vergan­ge­nen Jahren spielen laut Umfra­ge viele weite­re Menschen mit dem Gedan­ken, der Insti­tu­ti­on den Rücken zu kehren. Überpro­por­tio­nal von Austritts­er­wä­gun­gen betrof­fen ist die katho­li­sche Kirche, wie der «Religi­ons­mo­ni­tor 2023» der Bertels­mann Stiftung ergab. Dafür hatte das Insti­tut Infas 4363 Perso­nen ab 16 Jahren bundes­weit reprä­sen­ta­tiv befragt.

Nur 14 Prozent der Bevöl­ke­rung besuchen mindes­tens einmal im Monat einen Gottes­dienst, selbst bei Kirchen­mit­glie­dern sind es demnach ledig­lich 17 Prozent. Unter den Mitglie­dern gab knapp jeder Vierte (24 Prozent) bei der Befra­gung im Sommer 2022 an, in den vergan­ge­nen zwölf Monaten über einen Austritt nachge­dacht zu haben. Paral­lel dazu antwor­te­ten 20 Prozent auf die Frage, ob ein Kirchen­aus­tritt für sie «sehr» oder «eher wahrschein­lich» sei, mit «Ja». Bei den 16- bis 25-Jähri­gen hatten sogar 41 Prozent feste Austritts­ab­sich­ten, hieß es in der am Donners­tag veröf­fent­lich­ten Erhebung. Zwar seien eine Erwägung oder eine Absicht nicht gleich­zu­set­zen mit dem tatsäch­li­chen Schritt, der Trend sei aber deutlich.

Die sogenann­ten passi­ven Kirchenmitglieder

Beson­ders unter den passi­ven Kirchen­mit­glie­dern könne sich die Frage stellen, ob ein Verbleib mit Blick auf Kirchen­steu­ern und kriti­sche Diskus­sio­nen noch gerecht­fer­tigt sei, meinte die Religi­ons­exper­tin der Stiftung, Yasemin El-Menouar. Unter den Gläubi­gen, die mit ihrer Kirche fremdeln, sind Katho­li­ken deutlich häufi­ger vertre­ten als Protes­tan­ten. Hier schla­ge sich die «gerin­ge Reform­be­reit­schaft der römischen Kurie» wohl nieder. Außer­dem: «Die Missbrauchs­skan­da­le und der Umgang mit ihnen, vor allem in der katho­li­schen Kirche, haben zu einem Vertrau­ens­ver­lust geführt», sagte El-Menouar der Deutschen Presse-Agentur.

«Die Bedeu­tung der beiden Kirchen schwin­det. Sie werden in Zukunft nur noch einen kleine­ren Teil der Bevöl­ke­rung vertre­ten», erläu­ter­te El-Menouar. Sie ist überzeugt: «Das Chris­ten­tum und der christ­li­che Glaube als solche werden aber bleiben.» Die Studie sieht dabei auch zuneh­men­de «priva­te­re Formen der Spiritualität».

Progno­se zu Kirchenaustritten

Der evange­li­schen Kirche gehör­ten 2021 noch 19,7 Millio­nen Menschen an, der katho­li­schen Kirche knapp 21,7 Millio­nen. Einer Studie der Univer­si­tät Freiburg prognos­ti­ziert, dass beide Kirchen zusam­men bis 2060 noch etwa 22 Millio­nen Mitglie­der haben werden — das entspricht rund einem Viertel der Bevöl­ke­rung. «Die beiden ehemals großen Kirchen sterben in ihrer überkom­me­nen Sozial­ge­stalt und werden zu einer Minder­hei­ten­kir­che», analy­siert der Kirchen­recht­ler Thomas Schül­ler. «Der Kipppunkt ist schon länger überschritten.»

Aller­dings: «Die meisten religi­ons­so­zio­lo­gi­schen Unter­su­chun­gen belegen nicht unbedingt weniger Glauben, sondern den Tod eines kirch­lich sozia­li­sier­ten Glaubens», sagte Schül­ler der dpa. Die Frage nach dem Sinn des Lebens bewege die Menschen auch heute, viele suchten ihre Antwor­ten aber nicht mehr bei den Kirchen. «Darum wird die Gesell­schaft in der Tat entkirch­lich­ter, aber nicht unbedingt gottloser.»

Gesell­schaft nicht unbedingt gottloser

So antwor­ten in der Umfra­ge auf die Frage «wie religi­ös würden Sie sich selbst einschät­zen?» auch nur 33 Prozent mit «gar nicht». Zugleich geben 38 Prozent an, «sehr» oder «ziemlich stark» an Gott zu glauben. Vor zehn Jahren waren das laut Stiftung aber noch 47 Prozent. Ein tägli­ches Gebet gehöre für 17 Prozent der Bevöl­ke­rung zum Alltag — 2013 galt das für 23 Prozent. Weit über 80 Prozent der Kirchen­mit­glie­der meinen aktuell, dass man auch ohne Kirche Christ sein kann.

«Die Kirchen kreisen oft zu sehr um sich und sind zu geschlos­se­nen Gesell­schaf­ten gewor­den», kriti­sier­te Schül­ler. Haupt­grün­de für eine Abwen­dung seien «Kirchen, die, zumin­dest was die katho­li­sche Kirche angeht, zu sexua­li­täts­fi­xier­ten Moral­agen­tu­ren verkom­men sind». Die tatsäch­li­chen Fragen und Sorgen der Menschen würden häufig überse­hen. Gütezei­chen der christ­li­chen Religi­on sei eine selbst­lo­se Hinwen­dung zum Nächs­ten. Hier sollten die Kirchen sich einbrin­gen, «ohne direkt wieder gesell­schaft­li­chen und politi­schen Einfluss generie­ren zu wollen».

Deutli­che Unter­schie­de zwischen West und Ost

Der Religi­ons­so­zio­lo­ge Detlef Pollack von der Univer­si­tät Münster wies darauf hin, «dass sich die religiö­sen Landschaf­ten in Ost- und Westdeutsch­land gravie­rend unter­schei­den». Im Westen seien noch immer knapp 60 Prozent der Bevöl­ke­rung Mitglied in der evange­li­schen oder katho­li­schen Kirche, im Osten nur 20 Prozent. Meistens stehe vor dem Austritt «ein länge­rer Entfrem­dungs­pro­zess von der Kirche und sehr oft auch vom Glauben». Bei den Katho­li­ken spiele der Komplex Missbrauch eine zentra­le Rolle.

Im «Religi­ons­mo­ni­tor» sehen die Studi­en­au­toren in den christ­li­chen Kirchen nach wie vor wichti­ge gesell­schaft­li­che Akteu­re, die auch Stützen in Krisen­zei­ten sein könnten. Sie müssten sich aber «neu veror­ten». Infol­ge von Einwan­de­rung sei Deutsch­land «heute ein multi­re­li­giö­ses Land». El-Menouar schil­der­te: «Sogar unter Kirchen­mit­glie­dern hält eine Mehrheit die histo­risch gewach­se­nen Privi­le­gi­en der katho­li­schen und evange­li­schen Kirche für ungerecht und nicht mehr zeitge­mäß.» Künftig müsse es auch darum gehen, wie andere — musli­mi­sche, buddhis­ti­sche oder hindu­is­ti­sche — Religi­ons­ge­mein­schaf­ten vergleich­ba­re Parti­zi­pa­ti­ons­rech­te bekommen.

Pollack zufol­ge wird das Chris­ten­tum von den meisten Menschen im Westen des Landes «als Funda­ment unserer Kultur» angese­hen. «Nicht wenige finden es gut, dass es den Glauben und die Kirche gibt.» Und: «Ihre karita­ti­ve und diako­ni­sche Arbeit wird allge­mein hoch geschätzt.»

Von Yuriko Wahl-Immel, dpa